Schmutzengel
Er hat den beruflichen Stress
nicht mehr ertragen. Das stand zumindest auf dem Zettel, den er an die Kühlschranktür gepinnt hatte.«
Ich schwieg. Nippte an meinem Kaffee. Jede Äußerung konnte unter Umständen gegen mich verwandt werden, also presste ich die
Lippen zusammen, solange ich nicht trank.
Lauenstein nippte an seinem Kaffee, gedankenverloren.
Ich machte den Mund auf, um ihn auf die verdorbene Milch hinzuweisen, aber dann ließ ich es sein. Ich wollte ihn nicht ablenken.
Ein bisschen verdorbene Milch würde ihn schon nicht umbringen. Und wenn doch – mit der Beseitigung von Leichen kannte ich
mich ja jetzt aus. Hahaha…
»Im Herbst beschloss meine Mutter, den wiederholten Heiratsantrag ihres langjährigen Freundes anzunehmen und ihn zu heiraten.
Anfang des Jahres zog sie zu ihm und ich engagierte Sie.« Er lächelte leicht, wurde dann aber wieder ernst. »Außerdem will
sie mir die Firma überschreiben und sich ganz aus dem Geschäft zurückziehen.«
Ich nickte und zügelte meine Ungeduld. Was hatte das mit der Leiche zu tun?
»Man kann aber nicht neu heiraten, wenn man nie geschieden worden ist«, sagte Lauenstein.
Aha, jetzt kamen wir der Sache näher. Der abgehauene Ehemann störte also doch. Ich nickte.
»Und man kann auch kein Geschäft auf einen neuen Inhaberübertragen, wenn ein Inhaber von fünfzig Prozent der Anteile nicht auffindbar ist. Der Sohn, der
eigentlich
seit fünf Jahren das Geschäft führt, kann nicht zum Geschäftsführer bestimmt werden, wenn die GmbH beiden Eltern gehört und
nur ein gemeinsamer Gesellschafterbeschluss einen neuen Geschäftsführer berufen kann.«
Das ging mir jetzt ein bisschen schnell, aber durch meine eigene Existenzgründung hatte ich doch immerhin so viel Kenntnisse,
dass ich ungefähr verstand, wo das Problem lag. Lauensteins Vater wurde gebraucht. Damit er seine Frau freigeben, seine Gesellschaftsanteile
übertragen und seinen Sohn zum Geschäftsführer machen konnte.
Hier ging es zwar lediglich um die Legalisierung längst bestehender Verhältnisse, aber wenn diese Legalisierung nun zwingend
nötig war, musste der Vater her und die notwendigen Unterschriften leisten.
Oder …
»Kann man denn jemanden, der seit vierzehn Jahren verschwunden ist, nicht für tot erklären lassen?«, fragte ich.
Lauenstein nickte, aber ein zynisches Lächeln legte sich um seine Mundwinkel. »Klar. Außer, der Betreffende schreibt seiner
ehemaligen Geliebten jedes Jahr eine Weihnachtskarte.«
»Oh.«
Einen Moment war es still.
Lauenstein tat mir leid, ehrlich. Trotzdem war mir immer noch nicht klar, wie die Leiche in den Kühlraum seines Hauses gekommen
war. Und warum sie überhaupt da lag. Und warum er nicht genau wusste, ob das sein Vater war.
»Wie kam denn nun Ihr Vater in den Kühlraum?«, fragte ich.
»Ob er mein Vater ist, weiß ich ja noch gar nicht sicher«, entgegnete er mit einer abwehrenden Geste. »Eine Suchmeldungbei der Polizei brachte nichts. Also habe ich einen Detektiv beauftragt, ihn zu finden«, sagte Lauenstein.
»Anhand der Weihnachtskarte«, riet ich.
»Genau.«
Langsam begriff ich, was für einen Aufwand Lauenstein betrieben hatte, um seinen Vater zu finden. Nur um ihn dann gleich wieder
zu verlieren. Geklaut. Aus seinem eigenen Kühlraum. Mir stieg das Blut in den Kopf.
»Der Detektiv hat ihn gefunden?«, fragte ich schnell, um noch ein bisschen Aufschub zu bekommen.
»Er hat jemanden gefunden, der vermutlich mein Vater ist«, präzisierte Lauenstein. »In Dresden. Mein Vater liebte Dresden,
seine Eltern kamen von dort.«
»Und er war obdachlos?«, fragte ich.
»Ja. Kaum vorstellbar, was? Mein Vater war schon immer … äh … anders gewesen.« Lauenstein schwieg kurz, fast andächtig.
»Ich bin also nach Dresden gefahren und habe diesen Mann tatsächlich gefunden.« Er trank noch einen Schluck von dem flockigen
Kaffee, verzog das Gesicht, blickte in die Tasse, stellte sie weit von sich auf den Tisch und fuhr sich mit der Hand über
die Augen. »Aber ich konnte nicht erkennen, ob es wirklich mein Vater ist.«
Ich schluckte. »Warum denn nicht?«
»Weil ich ihn vor vierzehn Jahren das letzte Mal gesehen habe und er zu der Zeit sechzig Kilo mehr wog als der Mann, dem ich
in Dresden gegenüberstand. Weil der Penner sturzbesoffen war und mich auch nicht erkannte. Er war noch nicht einmal in der
Lage, mir zu sagen, wie er heißt oder ob er den Namen Lauenstein kennt.«
»Und da haben
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