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Schmutzengel

Titel: Schmutzengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Ich blickte auf das Display. Lauenstein. Schon wieder.
    Was, zum Teufel, wollte dieser Mann sonntagmorgens um halb elf von seiner Putzfrau? Und zwar so dringend, dass er fünfmal
     hintereinander anrief? Endlich nahm ich den Hörer ab, damit das schrille Klingeln endlich verstummte.
    »Hallo?«, rief eine Stimme aus dem Hörer, den ich noch unschlüssig in der Hand hielt. »Frau Leyendecker! Hallo! Antworten
     Sie doch!«
    Ich brachte es nicht über mich, den Hörer einfach aufzulegen. Stattdessen führte ich die Hand zum Ohr und krächzte ein nicht
     erkennbares Hallo in die Sprechmuschel.
    »Frau Leyendecker? Sind Sie das?«
    Mein »Ja« ging in einen Hustenanfall über.
    »Ich, ich, also, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll   …«, stammelte Lauenstein.
    »Moment«, krächzte ich, legte den Hörer hin, holte mir ein Glas Wasser und trank gierig.
    »Hm?«, meldete ich mich wieder.
    »Ich habe ein Problem«, sagte Lauenstein. Er sprach abgehackt, schnell und irgendwie wirr. Er klang wie jemand, dessen Problem
     so groß ist, dass er nicht weiß, wie er es in Worte fassen soll. Der sich nicht traut, es anzusprechen, es aber gleichzeitig
     möglichst schnell hinter sich bringen will. Er klang wie jemand, der am Rande der Verzweiflung steht und Hilfe benötigt. Ich
     fühlte mich allerdings nicht in der Lage, mich um Herrn Lauensteins oder um irgendjemandes Probleme zu kümmern. Das Einzige,
     was ich wollte, war meine Ruhe, eine Kopfschmerztablette, zwei Liter Wasser und viele Stunden Schlaf.
    »Es tut mir leid«, begann ich und musste wieder husten.
    »Mir ist etwas abhandengekommen«, sagte Lauenstein. Er musste sehr laut sprechen, um gegen meinen Husten anzukommen.
    Augenblicklich hielt ich inne. Der Husten war wie weggeblasen.
    »Mir ist etwas abhanden   … Ach, das kann ich jetzt so am Telefon nicht erklären.«
    »Was haben Sie gesagt?«, krächzte ich.
    »Sind Sie krank?«, fragte Lauenstein. »Sie klingen so anders.«
    Mir lag eine pampige Erwiderung auf der Zunge, aber ich begnügte mich mit einem heiseren »Ja«.
    »Ich komme zu Ihnen«, erklärte er mit fester Stimme. »Ist die Firmenadresse auch Ihre Privatadresse?«
    »Ja.«
    »Bis gleich.«
    Das Tuten aus dem Hörer riss mich aus meinem Schockzustand. Lauenstein kam her? Jetzt? Am Sonntagmorgen? Ja, hatte sich denn
     die ganze Welt gegen mich verschworen?
    Ich legte den Hörer auf die Gabel, schlurfte ins Bad und stellte fest, dass ich noch nicht einmal die Kraft hatte, über meinen
     Anblick zu erschrecken. Die Ringe unter den Augen hatten die Größe von Untertassen, das Haar war strähnig und fettig, die
     Lippen aufgesprungen und die Haut schuppig und bleich. Ich entledigte mich meines durchgeschwitzten Flanellnachthemdes und
     duschte ausgiebig. Danach fühlte ich mich etwas besser.
    Immerhin war ich angezogen, als Lauenstein zwanzig Minuten später klingelte, wenn ich mich auch noch nicht in dem Zustand
     befand, in dem ich normalerweise soziale Kontakte pflege.
    Aber das war Lauenstein auch nicht.
    Er sah so aus wie ich vor dem Duschen: bleich, übernächtigt, sorgenvoll. Immerhin trug er keinen schwarzen Anzug, sondern
     blaue Jeans und einen dicken Strickpullover mit Zopfmuster. Ich hätte ihn fast nicht wiedererkannt. Er sah fast wie ein normaler
     Mensch aus. Na gut, wie ein sorgenvoller, normaler Mensch.
    »Oje, Sie sehen ja grässlich aus«, begrüßte er mich.
    »Danke«, entgegnete ich automatisch.
    Er wurde rot. »Äh, nein, so meinte ich das nicht. Siesehen genauso bezaubernd aus wie immer, nur, äh, man sieht, dass Sie erkältet   …« Seine Stimme verebbte.
    Bezaubernd! Noch nie in den einunddreißig Jahren meines Lebens hatte ein Mann mich bezaubernd genannt. Ich starrte ihn einen
     Moment vollkommen fassungslos an, er starrte verlegen zurück.
    »Hier«, quetschte er dann endlich heraus und hielt eine Brötchentüte hoch. »Sie haben bestimmt noch nicht gefrühstückt, oder?
     Ich nämlich auch nicht.«
    Ich schüttelte den Kopf, nahm die Tüte entgegen und goss zwei Tassen Kaffee ein. Die Tüte enthielt das, was in Düsseldorf
     »Mürbchen« heißt, also Milchbrötchen mit Rosinen. Mein Leibgericht, das Oma früher immer extra für mich zum Sonntagsfrühstück
     besorgt hatte. Ich war gerührt. Vollkommen zu Unrecht natürlich, denn Lauenstein kannte die Bedeutung dieses Backwerks für
     mich ja gar nicht und hatte vermutlich einfach irgendetwas gekauft. Trotzdem nett von ihm. Wäre die Situation nicht so völlig
     abstrus

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