Schmutzengel
Sie ihn ins Auto gesetzt und mitgenommen«, sagte ich.
»Ich hatte nicht die Zeit, ihn in Dresden auszunüchternund abzuwarten, ob er sich an seinen Namen erinnert, wenn in seinen Adern wieder Blut statt Fusel fließt.«
»Sie haben ihn also mitgenommen, obwohl Sie überhaupt nicht wussten, ob dieser Mann Ihr Vater ist?«
Lauenstein nickte unglücklich.
»Was hätten Sie denn in Düsseldorf mit ihm gemacht, wenn sich herausgestellt hätte, dass er der Falsche ist?«
»Der Mann hatte genau so eine Narbe am Handrücken wie mein Vater«, murmelte er. »Außerdem fehlte ihm ein kleiner Teil des
linken Ohrläppchens. Beide Verletzungen hatte ihm ein Hund beigebracht, da war mein Vater fünf Jahre alt gewesen. Ich war
mir also ehrlich gesagt doch ziemlich sicher, dass er der Richtige war.«
»Aber als Sie ihn in Ihr Auto setzten, lebte er noch?«
Er nickte.
»Und wann starb er?«
»Kurz hinter Kassel.«
Du meine Güte, das muss man sich mal vorstellen: Da sitzt ein fremder Mann auf dem Beifahrersitz, der erst noch ein bisschen
vor sich hinlallt, dann einschläft und schnarcht. Und irgendwann ist er plötzlich still. Ein paar Kilometer weiter kommt die
Erkenntnis, dass der Kerl, den man gerade erst wiedergefunden hat, vermutlich der eigene Vater und gerade neben einem gestorben
ist. Einfach so. Ich spürte, wie eine Gänsehaut über meinen Rücken kroch.
»Und dann sind Sie den ganzen Weg von Kassel nach Düsseldorf mit einer Leiche auf dem Beifahrersitz …«
Lauenstein schüttelte den Kopf. »Ich konnte ihn natürlich nicht dort sitzen lassen, denn dann hätte seine Haltung verraten,
dass er auf einem Autositz gestorben ist. Wenn die Leichenstarre erst mal eingesetzt hat, hätte man vielleicht sogar beweisen
können, dass der Tod auf
meinem
Beifahrersitz eintrat. Ich bin also von der Autobahn abgefahren,in einen Forstweg rein und habe ihn in den Kofferraum gelegt. Eine liegende Stellung hielt ich für ungefährlich. Viele Obdachlose
sterben im Winter während des Schlafs. Im Liegen.«
Jetzt wurde er mir unheimlich. Woher wusste er das alles?
»Was hatten Sie mit der Leiche vor?«, fragte ich etwas atemlos.
»Ich wollte sie in einer dunklen Ecke auf unserem Grundstück ablegen, sie zufällig finden und dann die Polizei rufen. Meine
Mutter hätte glauben können, dass Vater sie noch einmal habe wiedersehen wollen. Vielleicht hätte sie ihm dann sogar vergeben
und ihren Frieden mit ihm machen können. Und die Polizei hätte seine Identität feststellen können. Damit wäre alles optimal
geregelt gewesen. So einigermaßen zumindest«, lenkte er ein.
»Aber warum haben Sie das denn nicht direkt nach Ihrer Rückkehr getan?«
Ich hoffte, dass meine Stimme nicht allzu vorwurfsvoll klang, aber ich fürchtete, dass man meinen ganzen Frust in dieser Frage
hören konnte. Tatsächlich hätte er mir jede Menge Ärger erspart, wenn er die Leiche gleich nach der Rückkehr irgendwo unter
einen Busch gelegt hätte, wo er sie bei Gelegenheit in aller Seelenruhe hätte »finden« können. In der Regel schaue ich bei
meinen Kunden nicht unter die Büsche, um dort nach Leichen zu suchen. Wir hätten uns beiden viel Ärger und Kummer erspart.
Lauenstein legte das Gesicht in die Hände. »Diese Idee ist mir ja erst später gekommen. Als ich nach Hause kam, war ich fix
und fertig. Ich habe den Mann erst einmal in die Kühlkammer gelegt, weil ich nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Dann
habe ich nach alten Fotos von meinem Vater gesucht. Ich war vollkommen durcheinander.«
»Und wann ist Ihnen die Idee dann gekommen?«
»Am nächsten Morgen. Ich wollte ihn finden, wenn ich von dem Kongress wiederkam. Dann hatte ich eine gute Ausrede, dass ich
ihn nicht früher bemerkt hatte.«
Einen Augenblick war es still. Ich erinnerte mich an die Nacht, in der ich Lauenstein wie ein aufgescheuchtes Huhn durch sein
Haus hatte laufen sehen. Das war ein paar Stunden, nachdem ich, wie der dumme Zufall es wollte, erst einen harmlosen Stadtstreicher
vor seinem Haus gesehen und dann, nach dem Putzen, die Tür offen gelassen hatte. Während ich Lauenstein nachts beobachtete,
lag die Leiche seines Vaters bereits in der Kühlkammer und der Hausherr suchte in seiner Verzweiflung nach Fotos, die die
Identität des Toten beweisen konnten. Kein Wunder, dass er sich wie ein Irrer benommen hatte.
»Jetzt stehe ich ziemlich dämlich da«, sagte Lauenstein. »Ich gehe davon aus, dass der Mann mein Vater war,
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