Schmutzige Haende
Sie nicht die Gelegenheit.
So war es und so würde es auch immer sein. Die Dokumente. Vecchios Dokumente. Er war verurteilt, auf immer und ewig ein Abklatsch Vecchios zu sein. Eine immer blasser werdende Kopie, immer weiter vom Vorbild entfernt. Scialoja. Der Wächter der Dokumente.
– Also?
– Was können Sie mir über Giulio Gioioso erzählen?
Carús Augen leuchteten amüsiert auf.
– Gioioso unterhält noch immer innige Beziehungen zu seiner Heimat. Was ein großer Vorteil ist, in derart wirren Zeiten. Schauen Sie doch, was wir gerade mitmachen, Doktor Scialoja! Es passieren Dinge, die nicht einmal ein Mann mit Ihrer Macht verhindern kann. Und wissen Sie, warum? Weil dieser Staat schwach ist. Resigniert. Weil die Italiener aufgehört haben zu träumen. Und das ist schlimm! Sehr schlimm! … Außerdem stelle ich mir vor, dass Sie wie ich und alle anderen auch die Nase voll haben von all der Gewalt … Natürlich erwarte ich keine sofortige Antwort. Denken Sie darüber nach, aber denken Sie nicht zu lange nach. Die Dinge werden sich sehr schnell ändern. Eines Tages sind die berühmten Dokumente vielleicht nur mehr ein Haufen Altpapier.
Der Brunch war hervorragend. Scialoja stocherte zerstreut in den köstlichen Speisen, er konnte sie gar nicht richtig schätzen, weil er noch immer über Carús Offenbarung nachdachte. Maya ging ganz in ihren Pflichten als Gastgeberin auf. Aber immer, wenn sich eine Gelegenheit ergab, suchte sie Patrizias Blick. Und Patrizia erwiderte den Blick mit einer raschen Geste, mit ihrem zugleich strahlenden und traurigen Lächeln. Zwischen ihnen war wie durch ein Wunder ein spontanes Einverständnis entstanden. Aber Ramino ließ nicht locker, mit seinen Anspielungen und seinen Darbietungen, bei dem er den süditalienischen und römischen Dialekt imitierte (nichts für ungut, Herr Doktor, ist nicht persönlich gemeint). Dann folgte der Spaziergang nach Santa Margherita mit obligatem Aperitif, ein leichtes Abendessen auf der Basis von Fisch, Eis, weitere Witze und ein doofes Gesellschaftsspiel, das von dem jovialen Ramino vorgeschlagen worden war. Erst zu vorgerückter Stunde konnten sich Maya und Patrizia allein unterhalten. Scialoja löcherte sie mit dieser Berlusconi-Geschichte. Sie sagte, dass der Cavaliere ihr sympathisch sei und dass sie ihn aus dem Bauch heraus wählen würde. Als Scialoja endlich einschlief, ging Patrizia zu Maya auf die Terrasse.
Maya reichte ihr einen Joint. Patrizia inhalierte und bekam einen Hustenanfall.
– Ein wenig Stoff hat noch niemanden umgebracht. Außerdem tut es meinem Auge gut!
– Entschuldige, ich bin nicht mehr daran gewöhnt.
– Du hast heute zu mir gesagt, dass ich Glück habe, Patrizia.
– Und du wolltest gerade antworten, dass dem nicht so ist. Dass ich mich irre.
– Ja. Du irrst dich.
Sie erzählte ihr von Ilio. Von ihrer Ehekrise. Von Raffaella, die unruhig durch die Zimmer des großen, würdevollen Mailänder Palazzo lief, die früher einmal so gemütlich und jetzt plötzlich so kalt und feindlich waren, und die sich fragte, warum Mama und Papa nicht mehr miteinander sprachen. Sie erzählte ihr vom gescheiterten Projekt der Schule, von den immer größer werdenden Schwierigkeiten in der Firma, den schmutzigen Konten. Wie Ilio ihrem Blick auswich. Über ihre Unfähigkeit, eine Entscheidung zu treffen, die Entscheidung, die einzig richtige. Dass sie das Vertrauen zueinander verloren hatten.
Patrizia hatte in ihrem Leben nur eine Freundin gehabt. Palma, die Ex-Terroristin, der sie im Gefängnis das Leben gerettet hatte. Palma arbeitete jetzt als Modefotografin und hatte immer einen vollen Terminkalender. Treffen wir uns nächste Woche, Patrizia, Schatz, ach nein, entschuldige, nächste Woche bin ich bei der Expo in Barcelona …
Und jetzt schüttete ihr diese Frau, die so ganz anders war als sie und im Grunde doch so ähnlich … das Herz aus. Patrizia empfand riesiges Mitleid für Maya. Und für sich selbst.
– Ich habe mich nicht getäuscht. Du hast Glück. Du weißt, was du willst. Du willst Ilio. Du willst deine Familie. Ich … ich bin wie dein Mann … auch ich kann mich nicht entscheiden … und nehme letzten Endes alles. Aber wenn du alles nimmst, verlierst du letzten Endes auch alles.
– Willst du darüber sprechen, Patrizia?
– Lass mich noch einen Zug machen.
3.
Am Samstagvormittag kamen Maya und Patrizia überein, bei dem Segelturn auf der
Nostromo
nicht mitzumachen. Nachdem sie lange im olympischen Pool der
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