Schmutzige Haende
Stalin Rossetti bot ihm eine Zigarette an, nahm sich selbst eine, und nach zwei oder drei nachdenklichen Zügen fragte er ihn, plötzlich ernst, beinahe würdevoll:
– Und du … Angelino Lo Mastro … was hältst du davon?
Der Mafioso lächelte. Ein krasses, heiteres und gerissenes Lächeln, würde Stalin später sagen. Ein Lächeln, das dem Klischeebild des Mafioso gar nicht entsprach.
– Manche sagen, die Sache mit dem „Zuschlagen“ ist aufgelegter Blödsinn.
Stalin konnte seine Begeisterung kaum verhehlen. Der Damm war gebrochen. Die Kommunikation hergestellt. Endlich nahm Angelino die Maske der Organisation ab und spielte sein eigenes Spiel.
– Und sie haben Recht, Angelino. Wenn ein Mann fällt, wird er sofort ersetzt, das wissen doch alle!
– Das hat auch Falcone immer gesagt!, bestätigte der Mafioso mit dem heuchlerischen Ausdruck von jemandem, der etwas Ehrenhaftes über den eben niedergemetzelten Feind sagt. – Dennoch müssen wir zurückstecken. Sonst gibt es am Ende dieser Geschichte in Italien mehr Tote als Kaktusfeigenstacheln!
Hin und wieder, vertraute ihm Angelino an, hin und wieder hatte er das Gefühl, verrückt zu werden. Er sprach mit diesem und jenem, aber es war, als würde er mit allen und mit niemandem sprechen. Hin und wieder – und da war er gewiss nicht der Einzige – weinte er den alten Zeiten nach. Schmierige Christdemokraten, vertrottelte Sozialdemokraten, die sich nicht darüber beschwerten, nur das fünfte Rad am Wagen zu sein, die Kämpfe der Sozialisten um die Erhaltung des Rechtsstaates, ein paar republikanische Freunde, die wussten, wann es an der Zeit war, das Maul aufzureißen … Und die Kommunisten, nicht einmal sie hatten sich zurückgehalten, wenn es darum ging, ein Stück von der Torte zu ergattern. Das war eine wohlgeordnete Welt, wo jeder die ihm zugedachte Rolle spielte, und wenn einer nicht spurte, wurde er von einem anderen auf die richtige Bahn gebracht. Aber das war Vergangenheit. Jetzt hingegen … Jammerschade, dass sie das verzweifelte Bedürfnis hatten zu verhandeln. Ohne zu wissen mit wem. Wer zum Teufel stand auf der anderen Seite? Wer zum Teufel regierte wirklich Italien? Die Richter in Mailand? Stalin wusste, dass irgendwer da unten in Palermo vorgeschlagen hatte, Di Pietro umzubringen, der allen auf die Eier ging … und ein anderer hatte geantwortet: Wem geht er auf die Eier? Denen, die uns im Stich gelassen haben? Hoch lebe also Di Pietro! Und wiederum ein anderer hatte gesagt: Aber was ist, wenn Di Pietro ein Auge auf gewisse Konten und Geschäfte wirft? Daraufhin hatte die Diskussion von Neuem begonnen. Die Entscheidung war gewissermaßen aufgehoben. Aber auch die Lösung dieses Problems hing von der immergleichen Frage ab: Wer regiert heute Italien?
– Keiner, erklärte ihm Stalin geduldig, oder besser gesagt, alle und niemand. Die von früher hängen in den Seilen. Und die, die noch kommen werden, sind noch nicht da. Es ist völlig unklar, wer sich Italien unter den Nagel reißen wird. Wir müssen durchhalten, bis wir wissen, wer der Sieger ist. Aber wer auch immer es ist, letzten Endes kann er die Rechnung nicht ohne uns machen.
– Mir ist, als würde ich diesen Bullen, Scialoja, hören …
– Scialoja will, dass ihr aufhört. Ich sage jedoch, dass ihr weitermachen müsst. Dass wir weitermachen müssen. Wir müssen sie mit dem Rücken zur Wand stellen. Wenn wir die Spannung aufrechterhalten, wird die
convenienza
für alle aufgehen!
– Ich verstehe dich nicht, Rossetti. Du gibst jenen recht, die uns einen Schlag versetzen wollen!
– Hängt davon ab, welchen Schlag.
Später versuchte er seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen und die Konversation, die er ohne zu zögern als surreal bezeichnet hätte, Satz für Satz Revue passieren zu lassen, aber er konnte nicht mit Sicherheit sagen, wessen Idee es eigentlich gewesen war. War es seine Idee gewesen oder die des Mafioso? Oder waren sie gemeinsam auf die Idee gekommen, indem sie mit mathematischer Genauigkeit über die wenigen wichtigen Elemente nachgedacht hatten, die ihnen zur Verfügung standen? Oder hatte die Verzweiflung von ihren Gehirnen Besitz ergriffen und sie auf weiche, unnachgiebige Art und Weise geformt? Wie dem auch sei, irgendwann hatte die Idee Gestalt angenommen. Sie hatte die unvergleichliche Form des Turms von Pisa. Sie funkelte wie die Kuppel des Petersdoms an einem prachtvollen Oktobertag in Rom. Sie hatte die würdevolle und schwebende Eleganz der
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