Schnappschuss
Rest rieb sich die Hände über dieses Gottesgeschenk, sich in den eigenen Vorurteilen ergehen zu können. Insgeheim schienen sie dem Wachmann Recht zu geben, der einen Insassen angebrüllt hatte: »Du bist ein hässlicher beschissener Araber.« Nachdem Tessa dieses Zitat abgedruckt hatte, hatte es eine ganze Reihe an Leserbriefen gegeben, die sich gegen den Ausdruck »beschissen« verwahrten. Keiner der Absender sprach sich gegen die Internierung an sich aus, nicht gegen das Lager und nicht gegen die Geisteshaltung des Wachmannes. Das Lager war ein Unglücksort gewesen, war es immer noch. Erst letzte Woche hatte es Unruhen gegeben – eine »Störung«, wie das Personal das nannte –, und heute entdeckte Tessa Männer und Kinder auf dem Flachdach der Turnhalle, die Spruchbänder hochhielten: Wir sind Menschen , keine Tiere .
In den ersten sechs Wochen hatten sich zwei Männer im Stacheldraht verfangen. Im zweiten Jahr hatten sich innerhalb von zehn Monaten sieben Insassen die Lippen zugenäht. Viele waren in Hungerstreik getreten. Brände waren gelegt worden, Steine waren geflogen, Tränengas war eingesetzt worden.
Das war die öffentliche Seite nahezu aller Internierungslager in Australien gewesen, die Seite, die man in den Nachrichtensendungen der kommerziellen Fernsehsender zu sehen bekam. Tessa hatte sich für die verborgenen Geschichten interessiert: Geistesstörungen, die Weigerung, sexuell misshandelte Kinder medizinisch zu betreuen, die zweifelhaften Qualifikationen der Wachen, die Einstellung der Angestellten des Refugee Review Tribunal und der Einwanderungsbehörde. Auch Korruptionsgerüchte hatte es gegeben.
Offenbar hatten Charlie Mead und seine Abschnittsleiter regelmäßig Bund, Staat und Bezirk betrogen, indem sie die Kosten für Reparaturen, Verpflegung, Dienste und Gehälter künstlich hochgedrückt hatten. Die Überschüsse waren an ihren Arbeitgeber ANZCOR geflossen, eine amerikanische Firma, die im Auftrag der Regierungen von Australien und Neuseeland Gefängnisse und Internierungslager betrieb. Die Firma hatte ihren Sitz in Utah, mit Filialen in Kanada und Großbritannien.
Doch bald sollte das Lager geschlossen werden. Tessa suchte nach einer letzten Gelegenheit, das ganze System der Internierung selbst und Charlie Meads Rolle darin anzuprangern.
Warum nur hatte Mead eingewilligt, sich mit ihr zu treffen? In den letzten drei Jahren hatte er die Medien, die ihn um Interviews gebeten hatten, ebenso wie Hilfswillige, die den Insassen Gutes zukommen lassen wollten, abblitzen lassen. Vielleicht hatte er die Nase voll davon, dass Tessa jeden ihrer Artikel stets mit den Worten enden ließ: »Die Lagerleitung lehnte einen Kommentar dazu ab«, vielleicht war es ihm auch egal, seine Versetzung stand ja kurz bevor.
Tessa ging im Geiste noch einmal Meads persönliche Daten durch. Geboren in Durban, Südafrika, fünfundfünfzig, zehn Jahre bei der Armee, Juraabschluss in Johannesburg und ein MBA in London. Arbeitete in Großbritannien in der Gefängnisleitung, bewarb sich dann erfolgreich auf den Posten als Vizedirektor – später Direktor – eines Hochsicherheitsgefängnisses in Brisbane. Dort hatte seine harte Linie Wachen und Insassen gleichermaßen befremdet, doch das stellte keinerlei Hindernis dar, als er angeheuert wurde, um das Internierungslager in Waterloo zu leiten. Traf im Januar 2002 in Waterloo ein. Verheiratet mit Lottie, über die Tessa nichts in Erfahrung bringen konnte. Keine Kinder.
Tessa musste vor dem Haupttor warten, während der Wachmann sich per Telefon mit der Verwaltung verständigte. Dann wies er ihr den Weg zu einem nahe gelegenen Parkplatz. Tessa stieg aus, schloss ab und steckte den Wagenschlüssel in ihre Aktentasche, als neben ihr ein Wachmann auftauchte. Sie hatte ihn nicht kommen gehört. Der Wachmann, eine stämmige Gestalt, wies mit einem Kopfrucken die Richtung, und Tessa folgte ihm durch die äußere und innere Stacheldrahtumzäunung über einen asphaltierten Bereich hin zum Verwaltungstrakt. Der wiederum war durch hohe Stahlrohrzäune von den anderen Gebäuden abgetrennt. Durch das Gitter lächelte sie ein Kind an. Zwei Frauen strichen anscheinend die Türen eines Schlafsaals. Mehrere Männer mit Zigaretten in den Händen starrten Tessa an, andere kickten einen Fußball hin und her.
Tessa schlang ihren Mantelkragen enger um den Hals, so als wolle sie den Nebel und die Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit von sich abhalten. Niemand sah sie neugierig oder
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