Schnauze Wessi: Pöbeleien aus einem besetzten Land (German Edition)
Erlebnisse im Westen – und wie sehr sie das alles bis heute prägt. Eine Selbsthilfegruppe.
Anja ( * ) wurde gleich 1990 nach Krefeld verschleppt. Sie war noch ein Kind, niemand hatte sie gefragt. Das wird schon, hieß es immer, sie werde auch dort Freunde finden. Aber so richtig wurde es nie. »Heute«, sagt Anja, 28, »fühle ich mich hier wie da fremd.«
Die Eltern von Ben, 32, blieben in Halle, verloren erst ihre Arbeit, dann ihr Haus und schließlich ihre Liebe. Für den damals 10-Jährigen ging mit der DDR praktisch auch die heile Familienwelt unter. Theoretisch kann er das heute sogar trennen. »Aber wenn man so will«, sagt er, »bin ich auch ein Wende-Opfer.«
Conny, 30, verbindet mit der Zeit vor allem Gorbatschow – so stand es immer auf den Flaschen, die sie zum Glas-Container trug, bis ihr Papa auf No-Name-Wodka umstieg. Felix sagt Westdeutschen gegenüber bis heute, er stamme aus Kassel, um das Thema ganz oder wenigstens dumme Fragen nach einer Kindheit in Cottbus zu vermeiden. Und eigentlich wollte ich zunächst auch gar nichts über diese bis zur Selbstverleugnung traurigen Schicksale schreiben. Kassel – also wirklich!
Zu intim schienen mir die Geschichten, die etwa hundert junge Leute Anfang Juli in Berlin miteinander teilten. Die zwischen 1975 und 1985 geboren und ab 1990 in einem völlig anderen Land erwachsen, ausgebildet und – nun ja, auch dieses Wort fiel – »umerzogen« wurden. Die nicht jammerten, aber auch keine Tränen scheuten, weil sie sich 20 Jahre einreden ließen, das spiele alles keine Rolle mehr. Sie seien doch viel zu jung, zu gesamtdeutsch, ja global sozialisiert, hatten sie von völlig ahnungslosen, aber auch den eigenen Leuten immer gehört. Nun staunten sie selbst, wie vielen anderen es damit ebenfalls anders ging. Was sie »Konferenz« nannten, wirkte oft wie eine Selbsthilfegruppe, ein Treffen von Heimatvertriebenen oder entwurzelten Immigranten-Kindern. Und das, dachte ich, geht nun wirklich keinen etwas an. Schon gar nicht Westdeutsche.
Ein »Team« aus jungen Politik- und Kommunikationswissenschaftlern hatte dazu eingeladen, nachdem ihnen aufgefallen war, dass in den Talkshows zum 20-jährigen Einheitsjubiläum im Herbst 2010 fast immer nur Westdeutsche über Ostdeutsche redeten. Folgerichtig ließen sie sich auch erst mal von einem Professor aus Bremen die gemischten Gefühle der »3. Generation Ostdeutschland« erklären.
Selbstironischer hätte die gleichnamige Veranstaltung kaum beginnen können. Wie gewohnt lauschten alle brav den mitfühlenden Worten eines Besserwissers, bis sie in kleinen Arbeitsgruppen erstmals eigene Worte dafür fanden – »wir« und »uns« vor allem, aber ebenso häufig, wenn auch noch etwas unsicher, »irgendwie« und »eigentlich«.
»Wir sind irgendwie anders.« Das haben »eigentlich« alle immer gespürt. »Trotzdem habe ich mein halbes Lebens damit verbracht, das irgendwie loszuwerden«, bekennt eine Berlinerin – eine echte, wie sie anfügt, »also Ost-Berlin«. Für einen jungen Mann, der extra aus dem süddeutschen Westen anreiste, »war es schon ein Coming-out«, als er nur von der Tagung hörte. »Eigentlich« – auch wenn das diesmal noch keiner so klar formuliert – sind die meisten da, um endlich mal »Schnauze, Wessi« zu sagen.
Vielleicht ist so eine Veranstaltung mit »Impulsvorträgen, Panels und Workshops« dafür zu akademisch. Vielleicht war auch das Collegium Hungaricum, so etwas wie das ungarische Goethe-Institut in Berlin-Mitte, nur der scheinbar passende Ort. Gleich um die Ecke wohnt die ostdeutsche Kanzlerin, am anderen Spreeufer gruseln sich Touristen im DDR-Museum. Und natürlich ist allen der schmale Grat bewusst, über den sie hier drei Tage balancieren: Wie Menschen mit einer Behinderung wollen sie nicht mehr als anders wahrgenommen werden, aber legen sehr wohl Wert darauf, anders zu sein – nur eben ganz anders. Je länger ich ihnen zuhöre, desto bewusster wird mir die eigene, fast westdeutsche Ignoranz.
Nicht einmal ich wusste, was auch heute um die 30-Jährige bei diesem Thema noch an biografischem Gepäck mit sich rumschleppen, an mentalen Komplexen und komplexen Mentalitäten. Was für Muster allein die Verunsicherung ihrer Eltern hinterließ, die von Freiheit geträumt, aber oft nur Freizeit bekommen hatten, und bei dem, was man den »Start ins Leben« nennt, auch kaum helfen konnten. Weder mit Geld, der nun nötigen Erfahrung oder weil sie einfach mit sich genug zu tun
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