Schneckenmühle
Unabhängigkeitumgibt sie, als könnte ihnen in diesem Land niemand etwas anhaben. Mit Westsachen fühlt man sich unverwundbar. Zur Not würden sich die Verwandten von drüben dazwischenstellen.
Ich will mit Peggy in die Endrunde kommen, deshalb schmettere ich bei ihr nicht, gebe mir aber besondere Mühe, nicht rauszufliegen. Einmal gelingt es mir auch, wir stehen uns alleine an der Platte gegenüber. Niemand merkt, wie sehr mich das beschäftigt. Als unser Ballwechsel zu Ende ist, klopft sie mit dem Griff auf die Platte, das Zeichen für die anderen, sich anzustellen. Wir gehen wieder unter in der Gruppe, und es ist mir peinlich, sie anzusehen, als wären wir einander jetzt versprochen.
«Peggy, mach mal ’ne Fratze. Danke, reicht schon …»
«Ziehste zur Disko wieder deine Stoffidas an?»
Peggy reagiert nicht. Astrid wirft ein Bonbonpapier runter: «Heb das auf!» Weil Peggy das Papier nicht aufhebt, knallt sie ihr eine. Peggys Bewegungen werden langsamer, wie bei einem Käfer, der sich totstellt. Ausgerechnet Astrid? Die ist doch eigentlich «vernünftig» und singt sogar im Kinderchor vom Radio? Und überhaupt, wie kann ein Mädchen so etwas machen? Mädchen werden doch dazu gebraucht, ein Vorbild für die Jungen abzugeben? «Spinnst du? Jetzt stinkt meine Hand», sagt Astrid. Ich schäme mich, weil ich nichts sage. Ich möchte nicht wahrhaben, daß das gerade passiert. Wenn das ein Kinderfilm wäre, würde ich umschalten.
15 Endlich dürfen wir im blauen Schwimmbassin auf der Wiese hinter den Bungalows baden, nachdemwir dem Rettungsschwimmer helfen mußten, es mit Schrubbern von einem grünen Schleimfilm zu befreien. Man muß sich erst unter eine Dusche stellen, in ein kleines Fußbecken, das so flach ist, daß die Sonne das schmutzige Wasser aufgewärmt hat. Ich versuche es immer wieder mit dem Kraulen. Im Westen mischen sie eine unsichtbare Chemikalie ins Wasser, so daß man, wenn man reinpinkelt, eine dunkelblaue Spur hinterläßt. Der ungewohnte Anblick der Mädchen in ihren Badeanzügen, wenn sie dem Wasser entsteigen und am nassen Stoff zupfen, damit er nicht so an der Haut klebt. Die Träger sind schon ausgeleiert. Holger schafft es, drei Mädchen gleichzeitig im Becken festzuhalten, sie scheinen ihm aber gar nicht wirklich entkommen zu wollen. Aus Handtüchern werden sorgfältig Rattenschwänze gerollt. Holger jagt damit Birgit hinterher. «Kaum lobt man euch, und dann so was!» sagt Jörg. Holger muß die Wunden auf Birgits Rücken mit Penaten-Creme behandeln. Sie preßt sich dabei den Badeanzug an die Brust.
Birgits Verletzung bringt uns darauf, was wir schon für Unfälle hatten im Leben. Birgits Narbe auf der Stirn, das hat sie mal erzählt, war eine offene Wunde, da sei sie gegen eine Glasscheibe gerannt und habe an der Stelle den Knochen «aufklappen» können. Fast jeder ist schon einmal «dem Tod von der Schippe gesprungen». Marko ist mal mit einem Bein in die Lücke zwischen S-Bahn und Bahnsteig gekommen, die Bahn fuhr los, und da die Lücke groß genug war, ist ihm nichts passiert. Holger ist beim Versuch, auf dem Spielplatz über einen Zaun zu springen, wie über eine Eskaladierwand, mit der Jacke hängengeblieben und hat sich durch sein eigenes Körpergewicht den Arm gebrochen. Ich kann dazu beitragen, daß ich mirmal das Knie an der kaputten Glühbirne von einem Fahrrad-Rücklicht aufgeschnitten habe. Und den Finger gequetscht, als es in Rumänien ein Erdbeben gab und in Berlin der Deckel vom Bettkasten zugefallen ist. Jede Narbe ist eine Erinnerung. Der Moment, wenn man weiß, daß man sich geschnitten hat, und auf das Blut wartet, das dann auch wirklich kommt.
Die Fensterscheiben der Waschräume sind innen mit weißer Farbe bestrichen. Ich kratze bei den Mädchen ein bißchen von der Farbe ab und bedecke die Stelle von außen mit Zahnpasta. Am Abend probiere ich meine Erfindung aus. Ich wische die Zahnpasta wieder weg und kann durch ein kleines Loch in den Mädchenwaschraum gucken. Seit Jahren herrscht ein zähes Ringen zwischen Jungen und Mädchen, wir sehnen uns danach, sie nackt zu sehen, wenigstens etwas mehr als erlaubt, wir tauschen uns aus und tragen unser Wissen zusammen, «Lach- und Sachgeschichten». Es ist ein noch viel stärkerer Wunsch, als einmal die Beine von Ernie und Bert zu sehen. Unter den enganliegenden Gymnastikanzügen, in denen die Mädchen vor der Sportstunde im Gänsemarsch am Lehrer vorbeiziehen, zeichnen sich ihre Formen ab. Unsere Augen verdrehen sich
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