Schnee an der Riviera
unseren Freund Roberto damals gekostet hat.«
Die Anspielung auf Maus Vater und seinen gewaltsamen Tod traf Nelly wie eine Faust in die Magengrube. Sie krümmte sich leicht, als wollte sie den Schlag abfangen, und Ferrari sah, wie sich ihr Gesicht schmerzvoll verzog.
»Verzeih meine Direktheit, aber dein Sohn hat schon den Vater verloren. Ich erlaube mir, so mit dir zu reden, weil Roberto fast wie ein Bruder für mich war. Und weil du und ich uns für eine gewisse Zeit nach seinem Tod sehr nahe waren. Eine Zeit, die ich nicht vergessen habe.«
»Ich weiß, Luca. Aber ich kann mir keine Verletzlichkeit erlauben, sonst müsste ich mir einen anderen Job suchen. Wie wir alle hat auch mein Sohn eine Bestimmung, und ich führe Robertos Arbeit fort, weil ...« – ich ihn liebte, dachte sie – »... weil er es verdient hat und sein Tod nicht umsonst gewesen sein soll«, sagte sie stattdessen.
Luca Ferrari seufzte resigniert.
»Ich bewundere dich, Nelly. Sei bloß vorsichtig. Und halt mich auf dem Laufenden.«
Während Nelly gedankenversunken die Treppen des Justizpalastes hinunterging, klingelte ihr Handy. Draußen explodierte, über jegliches menschliche Leid erhaben, der Frühling in all seiner strotzenden Pracht. Es war Nardini, der Pathologe. Kaum hatte sie die Neuigkeiten gehört, begab sie sich auf dem schnellsten Weg ins San Martino. Sie wollte es mit eigenen Augen sehen.
Wieder dieser Geruch nach Tod, und wieder ein junger Toter. Das Entscheidende aber war etwas anderes: Habib wies Spuren von Folter auf, zwar wegen des schlechten Zustands der Leiche nicht auf den ersten Blick ersichtlich, doch Nardinis geübtem Auge waren sie nicht entgangen.
»Sehen Sie diese etwas dunkleren Flecken? Brandspuren von Zigaretten«, sagte der Gerichtsmediziner gewohnt gelassen. »Und an den Fingern der linken Hand fehlen drei Nägel.«
»Was für Unmenschen!«, meinte Nelly.
Nardini zuckte mit den Achseln. Seit Jahren schon hatte er seine Gefühle in den hintersten Winkel seines Bewusstseins verbannt, um an seiner Arbeit nicht zu zerbrechen, und die Gräuel, die er jeden Tag zu Gesicht bekam, berührten ihn nicht mehr. Nelly fand diese Fähigkeit bewundernswert und beängstigend zugleich. Sie wäre niemals auch nur ansatzweise dazu fähig. Das Böse in seiner wechselnden, schrecklichen, immer wiederkehrenden Gestalt traf sie ins Mark, verletzte sie und machte sie rasend. Empörung und Wut waren ihr Treibstoff, um in dem, was ihr manchmal wie der sprichwörtliche Kampf gegen Windmühlen erschien, weiterzumachen.
»Sie dürfen sich von diesen Dingen nicht so beeindrucken lassen, Dottoressa. Ich sage Ihnen das als Freund. Bei Ihrem Job können Sie sich das nicht erlauben.«
»Aber klar doch. Ich sehe diesen Jungen noch vor mir, wie er vor ein paar Jahren Kekse essend und Kakao trinkend in meiner Küche saß. Er ist genauso alt wie mein Sohn, und der andere, den Sie vor zwei Tagen obduziert haben, war der beste Freund meines Sohnes.«
»Ja, eben. Wieso überlassen Sie den Fall nicht jemand anderem? Mir ist sowieso schleierhaft, weshalb er Ihnen nicht bereits entzogen wurde. Sie sind viel zu befangen. Wenn Sie mich fragen, laufen Sie Gefahr, dem Druck nicht standzuhalten, nicht objektiv genug zu bleiben.«
»Ach was. Es braucht schon ein bisschen mehr, um mich umzuhauen. Ich habe eben Gefühle, das ist alles. Und die kann ich nicht auf Eis legen wie Sie. Für mich sind sie eine Bereicherung und keine Bedrohung.«
Nardini grinste. Er nahm ihr die kleine Spitze nicht übel, was ebenfalls für seine Professionalität sprach.
»Jedenfalls ist er nicht an den Folterungen gestorben. Und auch nicht ertrunken. In den Lungen war kein Wasser. Sie haben ihn mit Koks vollgepumpt. Und dann versenkt.«
Mit Koks? Ein Zeichen, eine Anspielung? Wenn Habib etwas gewusst hatte, hatten sie ihn mit diesen Methoden wahrscheinlich zum Singen gebracht. Doch auch das hatte ihm nicht das Leben gerettet.
»Berücksichtigt man die Strömungen der vergangenen Tage, ist die Leiche mit fast hundertprozentiger Sicherheit im Osten ins Meer geworfen worden. Irgendwo zwischen Chiavari und Bogliasco, vielleicht sogar von einem Wasserfahrzeug unweit der Küste. Das Netz ist ein ganz normales Fischernetz, gebraucht und geflickt. Die Gewichte sind Tauchergewichte. Die Mörder wollten die Leiche ein für allemal verschwinden lassen, aber entgegen ihren Plänen haben sich die Gewichte zwischen den Felsen verkeilt, und der Tote ist von der Strömung
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