Schnee an der Riviera
schweren Brüste, die wohlgeformten Beine, die im Vergleich zum robusten Körperbau recht schmalen Fesseln. Sie kniff die mandelförmigen Augen zusammen und betrachtete ihre nicht mehr ganz schlanke Taille, den nicht mehr ganz flachen Bauch, das rötliche Schamhaar. Wenn Roberto von den Toten auferstünde, würde er in dieser dreiundvierzigjährigen, reifen Frau das schlanke, geschmeidige Mädchen von einst wiedererkennen? Das Mädchen, das er – zugegebenermaßen nicht besonders einfallsreich – »mein Karöttchen« nannte? Sie verdrängte die Antwort, rasierte sich gewissenhaft Beine und Achseln, föhnte sich das Haar und kam zu dem Schluss, dass sie sich angesichts der vollen Lippen, des anmutigen Halses, der schönen langen Hände und trotz der leider nicht minder langen Füße, Größe 41, als durchaus ansehnlich, wenn nicht gar attraktiv bezeichnen konnte.
Sie holte eine abgetragene Jeans und eine weite, orangefarbene Bluse mit orientalischem Muster aus dem nicht gerade reich bestückten Kleiderschrank und zog ihre beigefarbene Lederjacke darüber. Zwei indianische Silberohrringe, ein diskretes Make-up und ein Spritzer Chanel Nr. 5 . Nicht sonderlich originell, aber ihr gefiel’s. Und vor allem hatte es Roberto gefallen. Und Carlo mochte es auch sehr gern. Aber jetzt war nicht der Augenblick, um an Roberto zu denken, der seit langem tot war, oder an Carlo, der irgendwo auf den Weltmeeren umherschipperte. Sorgfältig schloss sie die schwere Wohnungstür ab und machte sich zu Fuß auf den Weg Richtung Via della Maddalena. Sie fürchtete sich nicht in der Altstadt, und das lag nicht an der Pistole, die hinten in ihrem Gürtel steckte. Schon als junges Mädchen war sie völlig arglos und unbefangen durch die Gassen spaziert, damals, als sie frisch vom Land gekommen war und alles in dieser vor Gerüchen und Katzen und unbekannten Abenteuern strotzenden Hafenstadt neu für sie gewesen war. In weniger als zehn Minuten war sie am Anatra azzurra .
Gerolamo sah sie kommen und trat aus dem Schatten einer Gasse hinaus. Er war in Zivil und trug seine schwarze Lederjacke. Als er so plötzlich aus dem Dunkel auftauchte, unterdrückte sie gerade noch einen vorschnellen Reflex.
»Ich bin nervös«, dachte sie ärgerlich.
»Ciao, Gerolamo. Wartest du schon lange?«
»Fünf Minuten, Commissario.«
Nelly blickte sich um.
Mehr noch als andere Ecken der Altstadt hatte die Via della Maddalena einen besonders dekadenten und morbiden Charme. Zwischen den blätternden Fassaden taten sich die dunklen Mündungen heruntergekommener Gassen auf, und Secondhandläden, Bäckereien, Gemüsehändler und zu dieser Stunde bereits geschlossene Rotisserien säumten die Straße. Dazwischen lagen zahlreiche Kneipen, jede mit ihrer eigenen Klientel. Als Nelly nicht viel älter als Mau gewesen war, hatte sie hier mit zwei Freundinnen in einer winzigen Wohnung gewohnt. Allerdings dachte sie an diese Zeit nicht besonders gern zurück. Die alten Kneipen, von denen es einige schon längst nicht mehr gab, kannte sie sehr viel besser als die neuen. Im Anatra azzurra war sie noch nie gewesen. Sie war ehrlich gespannt. Sie beobachtete ein paar Gäste, die zum Rauchen vor die Tür gekommen waren und es offenbar eilig hatten, wieder hineinzugehen.
»Also los«, sagte sie auf Gerolamos fragenden Blick hin, »dann wollen wir mal Aldo und Nino kennenlernen.«
Niemand schien die beiden Neuankömmlinge zu bemerken. Das lange, schmale Lokal war schummrig beleuchtet, die Musik dröhnte. Ethno-Musik, eine Art Singsang. Ein dezenter Weihrauchduft lag in der Luft. Rechts hinter dem langen Mahagonitresen waren zwei junge Studentinnen damit beschäftigt, Cocktails zu mixen und die Gäste zu bedienen, die am Tresen lehnten, auf den hohen Barstühlen hockten oder an den von Bänken gesäumten Tischen entlang der Wände saßen. Überall hingen afrikanische Masken und Objekte aus aller Welt. Die Atmosphäre war angenehm: weich und gedämpft und zugleich aufgeladen, voller Verheißung und kaum gezügelter Erregung. Am Ende des Tresens stand ein gutaussehender Mann und redete mit einem der Mädchen. Er war um die vierzig, und sein helles, langes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er trug ein gelbes Wildseidenhemd, eine Weste, schwarze Lederhosen und einen Ohrring. Ebenmäßige Züge, schlank, gepflegt. Nelly ging auf ihn zu.
»Aldo oder Nino?«, fragte sie ohne Umschweife.
Er zuckte leicht mit den Augenbrauen.
»Nino, wieso?«
Sie zog ihre
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