Schnee an der Riviera
Tage anrufen, um uns nach ihrem Befinden zu erkundigen und zu fragen, wann wir sie erneut vernehmen können.«
»Auf Wiedersehen, Commissario.«
Doktor Bonardi war offensichtlich erleichtert, dass sie endlich Leine zogen. Entweder war er sehr professionell oder er hatte eine Aversion gegen die Polizei, dachte Nelly. Oder beides.
Dasselbe Krankenhaus, Neurologische Abteilung, Fatimas Station. Der Beamte Merli, der vor der Zimmertür abgestellt war, sprang auf, als er Nelly und Gerolamo kommen sah. Sie machte ihm ein Zeichen, sich wieder zu setzen, und stand wenige Minuten später Dottoressa Ancona gegenüber. Sie war jünger als ihr Kollege Bonardi und sehr viel freundlicher. Die Patientin stehe unter Beruhigungsmitteln, sagte sie, und die Gefahr, dass sie sich etwas antue, sei erheblich. Mit ihr zu reden, und zudem noch über den Vorfall, der für ihren Zustand verantwortlich war, sei schlichtweg ausgeschlossen. Eine Krise sei damit vorprogrammiert. Für die Frau sei es am besten, wenn man die unbegreifliche und inakzeptable Wirklichkeit vorübergehend ganz von ihr fernhielte. Es sei unmöglich vorauszusagen, wann sie sich wieder fangen würde. In den kurzen Momenten zwischen der Verabreichung der Beruhigungsmittel und dem Einschlafen rief sie nach Habib und Hadija und redete zusammenhanglose Satzfetzen in ihrer Muttersprache.
»Können wir sie sehen, Dottoressa?«, fragte Nelly.
»Aber natürlich, Commissario. Im Augenblick ist sie ganz ruhig und schläft tief.«
Nelly und Gerolamo öffneten leise die Tür und schlichen auf Zehenspitzen ins Zimmer, obgleich selbst krachender Lärm Fatima nicht aus dem Schlaf gerissen hätte. Sie lag auf dem Bett, das Haar mit einem weißen Band zurückgebunden. Sie war fast bis zum Kinn zugedeckt, nur ihr Gesicht war zu sehen, und in dem Arm, der unter dem Laken hervorschaute, steckte eine Nadel, die ihre Vene über einen dünnen, durchsichtigen Schlauch mit einem Tropf verband. Langsam sickerte die farblose Flüssigkeit in ihren leblosen Körper. Sie war leichenblass, nur auf ihren Wangen leuchteten zwei unnatürlich rote Flecken. Im Halbdunkel des Zimmers hatte sie etwas Geisterhaftes. Hin und wieder bewegten sich lautlos ihre Lippen.
»Die Ärmste«, flüsterte Gerolamo.
Als sie wieder vor der Tür waren, wies Nelly den Wachbeamten an, dafür zu sorgen, dass niemand außer den Stationsschwestern das Zimmer betrat. Bei der Frau handelte es sich womöglich um eine wichtige Zeugin, und als solche schwebte sie in Gefahr. Dann verabschiedete sie sich von der jungen Ärztin und verließ mit Gerolamo das Krankenhaus.
Während der Wagen erneut an den Klinikgebäuden vorbeiglitt, überkam Nelly wie immer der Schauder vor den Leichenhallen, von denen sie nur zu gut wusste, dass sie da waren, auch wenn man sie von der Straße aus nicht sah. Der Tod, zumal der gewaltsame, war schon schrecklich genug, doch verbannt in diesen grässlichen, eines zivilisierten Landes gänzlich unwürdigen Bunker, war er eine Schande, ein derartiger Frevel an der Menschenwürde, dass Nelly sich fragte, wie so etwas Furchtbares in einer hochkultivierten Stadt wie Genua überhaupt noch möglich war und wie die Angehörigen der Toten dies als gottgegeben hinnehmen konnten. Wie immer sah sie den zusammengeflickten Roberto auf dem steinernen Tisch einer dieser Zellen liegen, während sich in den Nachbarzellen die Angehörigen der anderen Toten drängten und der unverwechselbare, schreckliche Geruch des Todes alles durchdrang. Die Vorhölle. Nelly war schon seit langer Zeit nicht mehr gläubig, doch wäre sie es gewesen, hätte sie es für schlicht unmöglich gehalten, dass von dort eine Seele gen Himmel und nicht in den Hades fuhr. Sie selbst hatte Roberto nach der Autopsie angekleidet und seine von Pistolenschüssen zerfetzte Brust unter seinem besten Anzug versteckt. Das Gesicht war unversehrt geblieben, heiter und schön wie immer. Sie zitterte.
»Soll ich das Fenster hochdrehen, Dottoressa?«
»Nein, nein, Gerolamo. Danke.«
Sie lächelte ihn an.
»Was hältst du davon, dass Francesco Bagnasco etwas versteckt hatte. Unter seinem Pulli. Aber wir haben nichts bei ihm gefunden.«
»Vielleicht war jemand schneller als wir.«
»Jemand war ... ja, jemand war schneller als wir. Gian, der Hausmeister, war bei ihm, als ich runterkam. Aber wir haben ihn gründlich vernommen, und der war dermaßen erschüttert ... Außerdem hätte er so gut wie keine Zeit gehabt, um etwas verschwinden zu lassen. Wir
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