Schnee an der Riviera
dafür gemacht, das war alles. Womöglich würde sie die heftigen Schwingungen, die von dem nur wenige Meter von Nelly entfernt sitzenden Paar ausgingen, gar nicht wahrnehmen.
Doch dann passierte etwas. Die Unterhaltung wurde immer erregter. Besonders Gianandrea wirkte angespannt. Etwas bereitete ihm Magenschmerzen, und er rückte noch näher an seine Begleiterin heran und zischte sie an. Sie war sehr blass und still geworden und versuchte nur hin und wieder, etwas zu erwidern. Schließlich griff er nach ihrer Hand und drückte zu. Immer fester. Verblüfft sah Nelly zu, wie seine elegante, hagere Hand ihre zierlichen Finger immer fester zusammenquetschte, bis sie sich schließlich auf die Unterlippe biss. So ein Händedruck tat bestimmt weh. Doch Gudrun zog ihre Hand nicht zurück, sie versuchte es noch nicht einmal. Der Schmerz hatte das Blut in ihr dezent geschminktes, eben noch kreidebleiches Gesicht zurückschießen lassen. Sie murmelte etwas und starrte ihn dabei unverwandt an. Gianandrea löste den Griff. Sie hatten das Essen nicht angerührt. Sie stand auf, um aufs Klo zu gehen, ihr Schritt war fest, doch Nelly hatte den Eindruck, dass diese Beherrschung sie einige Mühe kostete. Er blieb allein zurück und blickte sich um.
Nelly verschanzte sich hinter der Zeitung. Sie wartete einige Minuten, um ganz sicher zu sein, und als sie wieder aufsah, waren die beiden verschwunden. Alles war so schnell gegangen, dass sie den leeren Tisch mit den zwei Tabletts und den noch vollen Tellern einen Moment lang ungläubig anstarrte. Sinn-und zwecklos, den beiden nachzulaufen. »Und noch ein neues Puzzleteilchen«, dachte sie genervt. Oder war es nur ein ganz gewöhnlicher Seitensprung? Immerhin war jetzt klar, dass die beiden nicht nur in den gleichen Kreisen verkehrten und zwei befreundete Töchter hatten, sondern sich auch persönlich gut kannten. Dennoch war es an der Zeit, Gianandrea Pittaluga, der Volponi zufolge ebenfalls mit ihr reden wollte, auf den Zahn zu fühlen.
Es ging wie von selbst: Im Büro erwartete sie die Nachricht, Gianandrea Pittaluga habe angerufen und nach ihr gefragt. Er bat um einen Rückruf in seinem Büro. Nelly kippte den Kaffee hinunter, den Valeria ihr beflissen vor die Nase gestellt hatte, und wählte die Nummer. Gianandreas Sekretärin war offenbar bereits im Bilde, denn sie stellte Nelly sofort durch.
»Dottoressa Rosso?«
Die Stimme klang formell und neutral. Mit Gianandrea hatte sie sich nie geduzt. Zwar waren sie sich bei der einen oder anderen Gelegenheit über den Weg gelaufen, doch so eng wie mit Federica war der Kontakt – ob gut oder schlecht – nie gewesen. Er war eher der spröde, reservierte Typ.
»Undurchschaubar, wie Monica«, dachte Nelly.
»Dottor Pittaluga, wie schön, dass Sie mit mir sprechen möchten, ich wollte genau dasselbe.«
»So ein Zufall, ich halte es ebenfalls für nötig, dass wir uns treffen. Das hatte ich auch Dottor Volponi gesagt.«
Bildete sie sich das ein, oder schwang da eine Drohung mit?
»Wann und wo?«
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie heute Nachmittag in mein Büro kommen könnten, wann immer es Ihnen passt.«
»In einer halben Stunde?«
»Sehr gut. Sie wissen, wo sich unsere Büros befinden?«
»Nicht wirklich.«
»Corte Lambruschini, Aufgang B. Fragen Sie den Pförtner.«
»Ist gut. Bis gleich.«
Aber klar! Wie blöd von ihr! Der neue Sitz der Spediworld war im Corte Lambruschini, wie hatte sie das vergessen können? Federica hatte es ihr während des Umzuges erzählt und von der Großzügigkeit und der zentralen Lage der Räumlichkeiten geschwärmt. Womöglich saß die Familie sogar im Konsortium, das den Komplex hatte bauen lassen. Deshalb war er zum Essen im Kilt gewesen. Corte Lambruschini lag direkt gegenüber. Die Sache wurde immer interessanter. Nelly ging aufs Klo, kämmte sich sorgfältig die widerspenstigen Locken und zog sich die Lippen nach. Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel: Die Lederjacke, die grauen Hosen, die blaue Bluse – wie bescheuert von ihr, immer, wenn die Pittalugas ins Spiel kamen, kriegte sie plötzlich peinlichste Spießeranwandlungen, ausgerechnet sie, die auf ihr Aussehen und auf Äußerlichkeiten generell keinen gesteigerten Wert legte. Sie musste an die schöne, gepflegte, ganz in Mauve gekleidete und bestimmt angenehm duftende Gudrun Fallari denken. Wollte ihre weibliche Seite ihr vielleicht insgeheim nacheifern? Es war besser, das nicht zu vertiefen. Zurück im Büro, rief sie Marco
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