Schnee Im Regierungsviertel
war jeweils statt der »0«,eine Apparatenummer angegeben, so für die Botschaften von Amerika, Australien, Italien und Kanada. Bei den übrigen Anschlüssen stand hinter der sechsstelligen Zahl des Bonner Ortsnetzes noch eine dreistellige Nummer in Klammern. Die Liste von Irmela Ellers enthielt also nur Telefonnummern mit den entsprechenden Hausapparaten. Namen waren nicht vermerkt.
Freiberg stand auf und legte das Blatt zur Seite. Überlegend marschierte er in seinem Wohnzimmer hin und her. Was war das für ein seltsames Telefonverzeichnis – ohne einen einzigen Namen? Wie anders sah es doch in den Listen von Fräulein Kuhnert aus: Zu jeder Telefonnummer gehörte, fein säuberlich notiert, der Name und die Funktion des Anschlußinhabers.
Welche Absichten und Beziehungen verbargen sich hinter den nüchternen Zahlen in den Aufzeichnungen der Toten? Was bedeutete die teure Wohnung am Hof garten? Was war das überhaupt für ein Mädchen, diese Irmela Ellers, mit ihren goldenen Armreifen und teuren Ringen auf nahezu jedem Finger, dieses Mädchen, das den Schnee so geliebt hatte? – Und was hatte er, der Kommissar, inzwischen über den Stoff gelernt? Kokain turnt an, macht high und happy und stark in der Liebe.
Freiberg sah auf. Draußen vor den Gittern waren schnelle Schritte zu hören, ein wehender Rock und gleich darauf das Öffnen der Tür zu seinem Souterrain-Gefängnis. Sabine begrüßte ihn mit dem üblichen »Wau!« und ließ die Bemerkung folgen: »Da ist ja mein entlaufener Waldi, oder hat man dich vom Dienst suspendiert, daß du so früh daheim bist? Ich wollte ein paar Sachen mitnehmen und in die Beethovenstraße verschwinden. – Trennung von Tisch und Bett, damit du deine ganze Zeit und Kraft den Leichen widmen kannst. Die scheinen dich ja mehr zu fesseln als Warmblüter mit existenten Gefühlen.«
Freiberg hatte die Worte mit wachsender Verwunderung vernommen. »Was ist denn in dich gefahren!« Er trat einen Schritt vor und riß Sabine in seine Arme. Er zog sie so fest an sich, daß sie kaum noch atmen konnte und verschloß ihren Mund mit einem unendlichen Kuß. Sie trommelte mit den Fäusten auf seinen Rücken und versuchte, sich zu befreien. Dann erlahmte ihr Widerstand, und sie schlang beide Arme um seinen Nacken.
»Mein Waldi«, seufzte sie.
»Ins Körbchen?«
Sie lachte: »Wau!«
Mit einer raschen Bewegung warf er Ordner und Schnellhefter auf den Boden. Sie hatte kaum noch Zeit, ihr Kleid über den Sessel zu werfen und die Schuhe in die Ecke zu feuern. Das übrige übernahm der Kommissar. Auf der Couch entspann sich ein Kampf, bei dem jeder beweisen wollte, daß Liebe immer auch das Glück des anderen ist. Nach dem Erleben strich Sabine über seine vom Bart befreiten Wangen. »Ich glaube, er hat mir doch gefehlt – wenigstens ein kleines bißchen. Aber jetzt fühle ich mich besser, du brauchst ihn nicht gleich wieder wachsen zu lassen.«
Freiberg räkelte sich wohlig. »Glücklich?«
»Va bene.«
Sie schwiegen lange.
Sabine stand auf. »Glaubst du nicht auch, daß wir eine Stärkung verdient haben?«
»Eine vorzügliche Eingebung. Und dann erzählst du mir, was in der ÜB so läuft.«
Sabine ging in die Pantry und hantierte mit Geschirr. Sie kam schnell zurück. »Ich muß mir etwas anziehen; dein Underground läßt sich ohne das schützende Kleid der Zivilisation nur im Körbchen ertragen.«
Auch Freiberg streifte seine Sachen über, und zehn Minuten später saßen beide gesittet, wie ein reifes Ehepaar plaudernd, am Kaffeetisch. Endlich ein Gespräch ohne Bezug zum Kaiser-Wilhelm-Stein, ohne bohrende Fragen im Hinterkopf, ob die Ermittlungen richtig angesetzt waren.
Sabine erzählte vom Reiz des Rollenwechsels: früher Benutzerin der Universitätsbibliothek, heute ein Rädchen in deren Getriebe. Der Signierdienst am frühen Morgen, die Arbeit an den Katalogen sei nicht immer hosianna, denn die Orts- und Fernleihscheine könne man bei der Sauklaue vieler Studiker kaum entziffern, und einige seien sogar zu dämlich, die richtigen Zeilen auszufüllen. Interessant sei das ständige Wechseln der Dienststellen und die Gespräche mit den Kollegen. Manche seien reine Büchernarren, andere hockten mit Begeisterung am Mikrofiche-Lesegerät, um verschollene Schriften in einer der Bibliotheken oder Büchereien irgendwo in Deutschland auszugraben. »Du kennst ja mein Faible für alte Lexika, aber ich habe keine Zeit, in meinem Leihzimmer darin zu blättern«, schloß sie die
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