Schnee Im Regierungsviertel
Schilderung.
»Kann man Bücher überhaupt noch lieben, wenn sie so geballt auftreten? Wie viele habt ihr eigentlich?« fragte Walter.
Sabine gab drei Stück Zucker und einen Schuß Milch in die zweite Tasse Kaffee und übte sich im Understatement: »Nur so etwa zwei Millionen.«
Er lächelte sie an. »Und die mußt du jetzt alle lesen! – Na, dann studier mal schön!«
»Lach du! Meine Dissertation ist auch im Bestand – ich hab’ schon nachgesehen.«
»Die Heiratsprojekte der jungfräulichen Königin von England, Elisabeth L, als Mittel der Unabhängigkeitspolitik«, zitierte Freiberg. »Du siehst, die Jungfernschaft hat auch ihren Wert.«
»Sie zu verlieren ist reizvoller«, stellte Sabine, ohne lange zu überlegen, fest. »Aber jetzt erzählst du mir, wie es mit dem Fall Ellers steht. Schließlich hast du mich mit hineingezogen.«
Walter Freiberg zerbiß langsam einen Keks. »Eigentlich Fehlanzeige. Wir sind bisher nicht weitergekommen. Da unten liegen die Akten.« Er bückte sich und reichte ihr den Zettel mit den Telefonnummern. »Sieh dir das mal an.«
»Ja – und?«
»Kein einziger Name, keine Notiz. – Ich habe die durchgestrichenen Nummern angewählt. Fehlanzeige – die Anschlußinhaber sind vor einigen Wochen versetzt worden, nach Madrid und Paris. Im Fall DIHG hatte ich die Nachfolgerin an der Strippe; im zweiten Fall wird der neue Mann in den nächsten Tagen erwartet.«
Sabine kniff die Augen zusammen. »Und? – Ich verstehe nur Bahnhof.«
»Zwei Herren, die versetzt worden sind und deren Telefonnummern durchgestrichen wurden. Warum? Findest du das nicht eigenartig? Die Funktion hinter dem Anschluß bleibt doch.«
»Hm, du hast recht. Das sind ja Institutionen, in denen immer mal die Figuren wechseln.«
»Richtig.«
Sabine sah ihn aufmerksam an. »Meinst du, die Ellers war an den Figuren interessiert und nicht an den Institutionen? – Du scheinst mir wirklich ein fährtensicherer Jagdhund zu sein. Wir nehmen also an, die Ellers war ein Diplomaten-Callgirl?!«
Freiberg nickte. »Wir können davon ausgehen, daß sie mit den Inhabern der Telefonnummern auch nach dem Ausscheiden aus dem Kanzleramt noch Verbindung hatte.«
»Na, dann viel Vergnügen, Herr Kommissar; stochere mal schön in dem exterritorialen Ameisenhaufen herum. Da kriegt die deutsche Polizei kein Bein auf die Erde. – Wie sieht es mit den anderen Anschlüssen aus?«
»An die habe ich mich noch nicht herangetraut; das alles ist noch unklar und zu amorph. Wie soll ich mich dort melden – als Kripomensch von der Mordkommission?«
»Dann sind alle Klappen dicht.«
»Du sagst es. Oder soll ich etwa als Freund der Ellers auftreten? Aber die wissen bestimmt, daß sie tot ist. Zeitunglesen ist doch eine der Hauptbeschäftigungen von den Brüdern mit diplomatischen Status.«
»Ich hab’s«, rief Sabine triumphierend. »Call me, darling; please give me a call, my darling. Ich gehe für meinen Waldi auf den Strich.«
»O nein!«
»Aber ja! Telefonische Anmache von einsamen Männern; meine Sprachkenntnisse werden dafür ausreichen. Ich muß nur aus den zwei Millionen Büchern noch lernen, wie man das in diesen Kreisen übliche Liebesgeflüster in Englisch, Spanisch und Französisch bringt; dafür gibt’s bestimmt Spezialliteratur. Laß mich nur machen.«
Freiberg war nicht davon überzeugt, daß Sabines Spontaneingebung sich als so großartig erweisen würde, und meinte: »Ich glaube kaum, daß es einen Fachreferenten für Callgirlliteratur gibt, und wenn du die Kolleginnen an der Information fragst, wird man dich für ein bibliophiles Luderchen halten. Mit dem Image bist du für den Rest deiner Zeit an der ÜB erledigt. Laß lieber die Finger davon.«
Sabine sah ihn nachdenklich an. »Ich glaube, du hast recht. – Aber anrufen werde ich die Nümmerchen, eine nach der anderen. Ortsgespräche kann ich von meinem Leihzimmer aus ja ungestraft führen. Du hältst dich da raus!… Wäre doch gelacht, wenn meine holde Weiblichkeit die Herren Diplomaten und Verbandsvertreter nicht bewegen könnte, sich zu offenbaren. Wenn die Ellers ein Callgirl war, weiß ich das spätestens nach dem dritten oder vierten Anruf.«
Walter Freiberg stand auf. Er ging zum Schreibtisch und nahm ein Taschendiktiergerät mit Telefonadapter aus der Schublade. »Versuch bitte, die Gespräche aufzuzeichnen. Du drückst das Saugmikrofon oben auf den Hörer und stellst auf ›Start‹. Schau – einfach so!« Er hatte den Telefonhörer abgehoben und
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