Schnee Im Regierungsviertel
nicht wissen, was gefordert war und fragte vorsichtig zurück: »Welche bitte?«
»Na, welche schon«, raunzte der sonst so verbindliche Chef der Mordkommission. »Die von der Ellers natürlich – mit allen persönlichen Unterlagen.«
»Die hat Ahrens. – Soll er kommen?«
»Nein, die Akten möchte ich haben, komplett! Ich nehme alles mit in mein Gefängnis. Von den Knackies weiß ich, daß man hinter Gittern die unmöglichsten Ideen hat. Hier in diesem Stall fällt ja keinem Menschen etwas Vernünftiges ein.« Freiberg hatte das Gefühl, das Material ohne Ablenkung noch einmal gründlich sichten zu müssen. Seine studentische Hilfskraft Sabine ließ sich kaum noch blicken. Er hatte sie offensichtlich vergrätzt, weil er ihren begeisterten Schilderungen des neuen Jobs in der Universitätsbibliothek nur mit mäßigem Interesse gefolgt war.
»Ich kann mich genausogut auf Hans Arps ›Wolkenschale‹ vor der ÜB niederlassen und den Himmel ansingen«, hatte sie ihm giftig vorgehalten. »Da läßt man sich durch stinkige Lokale schleppen, um dir einen Gefallen zu tun, und was ist der Dank? Waldi geht muffelig seiner Wege und unsereins platzt vor Mitteilungsdrang.«
Mit halbem Ohr hatte er wahrgenommen, was für ein tolles Erlebnis es sei, schon mal mit Frau Doktor angeredet zu werden und endlich wieder Bücher in den Händen zu halten statt Big Macs und leergefressene Styropor-Verpackungen. Für die Dauer des Urlaubs eines Bibliotheksrats dürfe sie sogar dessen Zimmer benutzen; winzig zwar, aber mit Telefon und einer Tür zum Zumachen. Nicht mehr welke Salatblätter, sondern Inkunabeln aus dem fünfzehnten Jahrhundert betrachten. Ob er sich überhaupt vorstellen könne, was das nach einem Jahr Bedienung im Fast-Food-Geschäft für sie bedeute? – Das war jetzt ihre Welt, und er hatte noch keine Zeit gehabt, sich darauf einzustellen. Er mußte sich mit der Toten vom Kaiser-Wilhelm-Stein herumplagen.
Am späten Nachmittag saß Walter Freiberg hinter seinen Gittern auf der Couch mit den in der Wohnung von Irmela Ellers sichergestellten Akten. Er nahm sich Seite für Seite vor. Viele waren es nicht, und so begann er abermals einen Durchgang.
Die Unterlagen über das frisch begonnene Studium waren dünn und unergiebig. Genauso sah es auf den ersten Blick auch mit den Papieren über den Dienst im Bundeskanzleramt aus: ein gutes Schulzeugnis, Nachweise über den Besuch von Sprachkursen, der Arbeitsvertrag, das Dienstleistungszeugnis, Sozialversicherungsunterlagen und Gehaltsabrechnungen. Der letzte Bankauszug wies ein Guthaben von siebentausendvierhundert Mark aus. Die Einzahlungen waren, bis auf tausend Mark, in den letzten drei Monaten erfolgt.
Freibergs Blick blieb auf der Seite mit den handschriftlich vermerkten Telefonnummern der Botschaften und Verbände haften. Neun Telefonanschlüsse waren notiert, zwei davon durchgestrichen, und zwar die Botschaft mit dem Kennbuchstaben F und die Nummer neben der Abkürzung DIHG, was nichts anderes bedeuten konnte als Deutsche Industrie- und Handelsgesellschaft. Freiberg stand auf und holte sein Telefon mit langer Schnur herüber. Er mußte wissen, was sich hinter den durchgestrichenen Nummern verbarg.
»Hier Angermann«, vernahm er eine angenehme Frauenstimme. »Was kann ich für Sie tun?«
Freiberg improvisierte eine Geschichte von einem Kollegen, der ihn gebeten habe, bei dieser Nummer anzurufen und um eine Terminverlegung zu bitten. Leider habe er den Namen des Herrn bei der DIHG nicht notiert und schlicht vergessen.
»Da kann ich Ihnen ohne nähere Hinweise leider auch nicht helfen. Ich habe diese Stelle vor drei Wochen von Herrn Doktor Wiesel übernommen, der nach Madrid versetzt worden ist. Vielleicht ist es ja möglich, von Ihrem Kollegen Genaueres zu erfahren; dann will ich mich gern um die Angelegenheit bemühen«, erklärte Frau Angermann.
Freiberg bedankte sich und legte auf, um die hinter dem F stehende Nummer anzuwählen. Niemand nahm ab. Dann meldete sich die Zentrale der Ambassade de France. Hier wurde auch deutsch gesprochen. Auf seine ähnlich wie beim DIHG formulierte Frage erhielt Freiberg die Antwort, daß Monsieur Precolas vor kurzer Zeit an die Zentrale nach Paris zurückversetzt worden sei. Sein Nachfolger werde erst in ein paar Tagen eintreffen. Mit einem »Merci, Madame« war auch diese Verbindung ohne Erfolg abgehakt.
Freibergs Augen suchten das Blatt Zeile für Zeile ab. Bei den Auslandsmissionen mit drei- oder vierstelliger Durchwahlnummer
Weitere Kostenlose Bücher