Schnee in Venedig
des Casinos hatte sich drohend neben seinem Kollegen aufgebaut. Sie eskortierten Trondurch den Ballsaal ins Vestibül zurück. Dort schoben sie ihn durch eine Gruppe österreichischer Offiziere und führten ihn in einen Flur, der an einer Tür endete. Einer der Männer stieß sie auf.
Wie viele alte venezianische Palazzi war auch der Palazzo Molin im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verändert und umgebaut worden. Es war nicht ungewöhnlich, dass man von einem Ballsaal des 18. Jahrhunderts ein Treppenhaus betrat, das hundert Jahre älter war und zu Räumen führte, die noch älter waren. Der Raum, in dem Tron nun stand, schien aus den Jahren zu stammen, in denen Albrecht Dürer die Lagunenstadt besucht hatte. Er war niedriger als die anderen Räume des Palazzos, hatte Wände, die mit verblichenem hellgrünem Stoff bespannt waren, und eine unverkleidete Holzdecke.
Fünf Schritte von ihm entfernt saß der hagere Mann, der ihn im Vestibül misstrauisch gemustert hatte, und sah ihm aufmerksam entgegen. Er saß hinter einem großen Tisch, der mit Türmen aus Münzen und Jetons bedeckt war.
«Du solltest dich etwas besser anziehen, Tron», sagte der Mann. Dann stand er auf, brach in Gelächter aus und streckte ihm seine Hand entgegen. «Setz dich.»
«Zorzi?», fragte Tron.
Die Erinnerung war wie ein aufschnappendes Messer. Mein Gott, wie lange war das her? Vierzig Jahre? Fast fünf Jahre lang hatten sie im
Seminario Patriarcale
nebeneinander gesessen, in der verhassten schwarzen Schuluniform, die sie wie kleine Priester aussehen ließ, und hatten im Winter mit vor Kälte geröteten Fingern in ihre Hefte geschrieben. Waren sie damals befreundet gewesen? Wahrscheinlich. Tron wusste es nicht mehr. Er konnte auch nicht mehr sagen, wann sie einander aus den Augen verloren hatten. Irgendwann war Zorzi aus der Stadt verschwunden. Tron erinnertesich nicht an seinen Vornamen. Sie hatten sich immer mit dem Familiennamen angesprochen.
«Seit wann bist du wieder in Venedig?» Merkwürdig, dachte Tron, jemanden zu duzen, den man praktisch nicht kannte.
«Seit einem Jahr», sagte Zorzi. «Ich habe in Turin gelebt.»
«Und der Palazzo Zorzi?», fragte Tron. Und dann fiel ihm noch etwas ein: «Und die Bibliothek deines Vaters?»
«Ist nach dem Tod meiner Mutter verkauft worden. Das Haus soll abgerissen werden.» Zorzi versuchte zu lächeln, aber er brachte nur eine Grimasse zustande.
«Ist das dein Casino?»
«Ich bin ein paar Leuten verantwortlich, die ihr Geld hier investiert haben.»
«Woher wusstest du, dass ich hier bin?», erkundigte sich Tron.
«Weil ich dich im Vestibül gesehen habe. Ich konnte dich zuerst nicht einordnen. Aber es war kein Problem, dich zu beschreiben, als ich meine Leute bat, dich zu holen.» Zorzi lächelte. Er warf einen Blick auf Trons schäbigen Gehrock.
«Ich hatte keine Ahnung, wie vornehm es hier zugeht», verteidigte sich Tron.
«Du bist dienstlich hier?»
«So ungefähr.»
Zorzi schichtete ein paar Jetons von einer Säule auf die andere. «Wenn meine Informationen stimmen, ist Grillparzers Onkel in der letzten Nacht ermordet worden. Auf einem Schiff, das auch der Leutnant benutzt hat.»
«Du kennst den Leutnant?»
«Wir waren um zwölf hier verabredet. Grillparzer hat mir Geld geschuldet. Eine ziemlich hohe Summe. Dann ist er gegangen und vor zwei Stunden wieder erschienen. Leitest du die Ermittlungen?»
«Oberst Pergen hat den Fall übernommen.»
«Weil Grillparzer unter Verdacht steht?»
«Pergen hält ihn für unschuldig.»
«Und du?»
«Der Hofrat war ein reicher Mann», sagte Tron. «Grillparzer ist der einzige Erbe seines Onkels.»
«Und trotzdem schließt Pergen aus, dass er der Täter ist?»
Tron nickte. «So ist es. Und ich frage mich, warum.»
«Dann dürfte dich interessieren, was vorhin passiert ist. Pergen war vor einer Stunde hier. Er wollte wissen, ob Grillparzer im Casino ist.»
«Warst du dabei, als Pergen hier eintraf?»
«Ich stand im Vestibül.»
«Und dann?»
«Hat Pergen den Leutnant gesucht. Nach ein paar Minuten kam er mit Grillparzer zurück und hat mich gefragt, wo sie ungestört reden könnten. Ich habe mein Büro zur Verfügung gestellt. Die Unterredung schien in keinem sehr freundlichen Ton zu verlaufen. Oberst Pergen ist danach wütend die Treppen hinuntergestürmt und hat noch auf den Stufen nach seinem Gondoliere geschrien.»
«Und Grillparzer?»
«Hat anschließend weitergespielt. Hast du immer noch vor, mit ihm zu reden?»
«Ich
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