Schnee in Venedig
Ballani hat sich eine Geschichte zusammengebastelt?»
«Beweise hat er jedenfalls nicht. Können Sie ausschließen, dass Pergen nicht doch auf der Suche nach politischen Unterlagen war?»
«Natürlich nicht.»
«Sehen Sie? Ich kann schlecht zu Toggenburg gehen und sagen: Lieber Toggenburg, es war alles ganz anders, als es in dem Bericht Pergens steht. In Wirklichkeit steckt Oberst Pergen hinter dem Mord. Er hat den Hofrat durch seinen eigenen Neffen, den Leutnant Grillparzer, ermorden lassen. Und damit die Angelegenheit nicht ans Licht kommt, hat Oberst Pergen den Fall mit der originellen Behauptung an sich gerissen, es ginge um ein Attentat auf die Kaiserin. Anschließend hat er den unschuldigen Pellico verhaftet und so lange auf ihn eingeredet, bis der ein Verbrechen gestanden hat, das er gar nicht begangen hat. Das alles weiß ich von Commissario Tron, der, obwohl er bereits von dem Fall abgezogen war und keine Befugnisse hatte, sich überhaupt mit dieser Angelegenheit zu befassen, ein wenig auf eigene Faust ermittelt hat. Und der wiederum weiß, was ich Ihnen gerade erzählt habe, von einem ehemaligen Cellovirtuosen, der ein Verhältnis mit dem Hofrat hatte.»
«Ich gebe zu, dass sich das nicht sehr gut anhört. Aber wenn es stimmen würde, was Ballani sagt, dann könnte …»
«Wenn, würde, könnte.» Spaur warf sich ungeduldig auf seinem Stuhl zurück. «Das reicht nicht, Commissario. BegreifenSie nicht? Sie haben nichts in der Hand. Dieser Ballani hat auch nichts in der Hand. Nur seine Geschichte. Und die wird ihm kein Mensch glauben.»
«Aber Sie halten es doch für möglich, dass er die Wahrheit erzählt, oder?»
Spaur zuckte die Achseln und steckte sich ein weiteres Stück Demel-Konfekt in den Mund. «Möglich ist fast alles. Aber darum geht es hier nicht.»
«Und wie, würden Sie vorschlagen, sollte ich jetzt vorgehen?»
«Sie gehen weder vor noch zurück, Commissario. Sie vergessen den Fall.»
«Ich könnte noch einmal mit Moosbrugger reden.»
«Warum?»
«Wenn es stimmt, dass der Hofrat sich nichts aus Frauen gemacht hat, frage ich mich, wie das Mädchen in seine Kabine kam.»
«Denken Sie, Moosbrugger kann Ihnen das verraten?»
Tron nickte. «Vermutlich.»
Spaur überlegte einen Moment lang. Dann sagte er: «Gut. Dann reden Sie meinetwegen mit Moosbrugger. Aber fassen Sie ihn mit Samthandschuhen an. Dieser Oberkellner hat mehr Einfluss als Sie und ich zusammen. Und noch etwas, Commissario.» Spaur lehnte sich über den Tisch und dämpfte seine Stimme, so als würde jemand an der Tür lauschen. «Wenn Sie mit Moosbrugger reden, dann tun Sie das ohne mein Wissen. Ich habe Ihnen mitgeteilt, dass der Fall abgeschlossen ist und dass Oberst Pergen offenbar großen Wert darauf legt, dass Sie damit aufhören, in seinem Revier zu wildern.»
Der Polizeipräsident drehte den Kopf und sah zum Fenster. Ein kräftiger Windstoß hatte den Fensterflügel, der nur angelehnt gewesen war, weit aufgestoßen und eine Handvoll Schnee vom Fensterbrett auf den Terrazzoboden des Büros geweht. Spaur stand auf und lehnte den Fensterflügel wieder an, ohne ihn zu schließen.
«Die
Erzherzog Sigmund
nimmt ihren normalen Betrieb morgen wieder auf», sagte Spaur, als er Tron zum Abschied die Hand gab. «Sie müssten Moosbrugger also spätestens am Nachmittag auf dem Schiff erreichen.»
23
Elisabeth sitzt vor dem Spiegel, der auf ihrem Frisiertisch steht, und sagt «Pfeifkonzert». Sie könnte ebenso gut «Marmeladenbrot» oder «Ballhausplatz» sagen, es kommt nicht auf den Inhalt der Worte an, sondern darauf, wie sie die Worte aussprechen kann. Die Wattekügelchen, die sie sich in die Backen und unter die Oberlippe gestopft hat, sollen ihre Aussprache verfremden, aber sie nicht beim Sprechen behindern. Elisabeth möchte sich fließend unterhalten können, aber sie möchte auch, dass ihre Sprache ein wenig anders klingt.
Zwei Petroleumlampen, an beiden Seiten des Spiegels aufgestellt, werfen ein helles Licht auf ihr Gesicht. Wichtig ist, dass sie genau beobachten kann, was in ihrem Gesicht vor sich geht, während sie ein Baumwollkügelchen nach dem anderen unter die Oberlippe und zwischen Zahnfleisch und Wange stopft.
Noch ist keine große Veränderung zu erkennen, aber sie merkt jetzt schon, dass die Kügelchen mehr auftragen als drücken werden – genau wie sie es will. Nun wirft sie nicht mehr jedes Mal, nachdem sie ein weiteres Kügelchen in ihrem Mund platziert hat, einen neugierigen Blick in
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