Schnee in Venedig
Verdacht, dass das kaiserliche Offizierscorps den Anforderungen der Stadt nicht gewachsen ist.
Zwanzig Minuten später ist ihr Verdacht zur Gewissheit geworden. Denn sie hat so ziemlich alles versucht, ohne die Grenzen des Schicklichen zu überschreiten. Sie ist mehrmals stehen geblieben und hat sich hilflos umgesehen, als wüsste sie den Weg nicht – keine Reaktion von den beidenKaiserjägern, die unmittelbar hinter ihr gingen, die Flegel sind einfach an ihr vorbeimarschiert. Sie hat, direkt vor den Augen eines Pionierleutnants, ihr Taschentuch fallen gelassen – der Bursche hat die Augen abgewendet und sich eine Zigarette angezündet. Das alles ist natürlich ein Skandal, und wären die Umstände, unter denen sie von den Manieren des Offizierscorps erfahren hat, nicht so ungewöhnlich, würde sie Franz Joseph davon berichten. So muss sie sich darauf beschränken, das Ende ihrer Exkursion ins Auge zu fassen, die jetzt vielleicht eine Stunde gedauert hat oder auch länger. Elisabeth weiß nicht mehr, wann genau sie den Palazzo Reale verlassen hat – aber auf jeden Fall ist die Zeit gekommen, sich wieder auf den Rückweg zu begeben.
Aber genau das tut sie nicht. Anstatt sich umzudrehen (sie steht wieder zwischen den beiden Säulen) und über die Piazza zum Eingang des Palazzo Reale zu laufen, wendet sie sich nach rechts. Sie geht am
Café Oriental
vorbei, an Offizieren, die ihr wieder keinen Blick schenken, und macht erst ein paar Schritte hinter dem Ponte della Zecca Halt. Hier endet die Gasbeleuchtung, und ohne den Mond würden der kleine Abschnitt der Wasserpromenade und die Rückfront des Palazzo Reale in vollständiger Dunkelheit liegen.
Elisabeth, jetzt allein auf der Uferpromenade, blickt zu den Zimmern hoch, die sie seit Oktober letzten Jahres bewohnt. Auf den beiden unteren Etagen sind erleuchtete Fenster zu erkennen, aber die Etage, die sie zusammen mit den Königseggs bewohnt, ist dunkel, jedenfalls bis auf ein schwaches Licht, das, wenn sie richtig gezählt hat, aus dem Salon der Königseggs kommt, was bedeutet, dass sie eine brennende Petroleumlampe dort zurückgelassen hat – auf dem gräflichen Schreibtisch, an dem sie sich illegalerweise den Passierschein ausgestellt hat. Eine grobe Nachlässigkeit, es sei denn, dass es sich bei dem Licht nicht doch um Lichtaus ihrem Schlafzimmer handelt, aber das hieße, dass sie sich in der Reihenfolge der Fenster geirrt hat.
Elisabeth setzt sich wieder in Bewegung, aber diesmal geht sie nach rechts, tritt in die Dunkelheit des kleinen Parks und hat plötzlich Schnee unter ihren Füßen. Vor einer Bank, auf der ein dickes weißes Polster liegt, bleibt sie stehen. Jetzt zählt sie zum zweiten Mal die Fenster ab, aber dieses Mal mit Hilfe des Zeigefingers, den sie auf die Fassade richtet. Elisabeth beginnt mit ausgestrecktem Arm und ausgestrecktem Zeigefinger auf der rechten Seite, dort, wo der Palazzo Reale an die Bibliothek stößt. Zwei Fenster für ihr Schlafzimmer, ein Fenster für ihr Ankleidezimmer, dann ein Mauerband, dann vier Fenster für den ersten ihrer Salons, dann wieder ein Mauerband und danach zwei weitere Fenster für den zweiten Salon, dann die Fenster des Esszimmers, schließlich die Fenster …
«Signora?»
Die Stimme, keine italienische Stimme, klingt laut und bellend. Elisabeth fährt auf dem Absatz herum.
24
Ein Ruderschlag, der die Gondel die letzten Meter vorantrieb, eine harte Drehung des Ruders in der
forcola
, dann das Anschlagen des Bugs an den steinernen Stufen vor dem Wassertor des Fenice – eine gute halbe Stunde vor dem Beginn der Vorstellung stieg Tron aus der Gondel.
Er gab seinen Mantel an der Garderobe ab, empfing einen der nummerierten rosa Zettel, wie sie das Fenice schon in seiner Kindheit benutzt hatte, und ging weiter ins Foyer. Dann schlenderte er ins Parkett, nahm auf einem derKlappsitze Platz, die für den Theaterarzt reserviert waren, und sah zu, wie sich das Parkett und die Logen langsam mit Einheimischen, vornehmen Fremden und kaiserlichen Offizieren füllten. Viele Offiziere trugen ihre Galauniform, so als würden sie mit der Anwesenheit der kaiserlichen Familie rechnen. Aber der Kaiser war in Wien, und davon, dass die Kaiserin die Absicht hatte, die Vorstellung zu besuchen, war Tron nichts bekannt.
Tron hatte die kaiserliche Loge nur einmal besetzt gesehen, das war noch zu Zeiten Kaiser Ferdinands gewesen, anlässlich der feierlichen Wiedereröffnung des in Rekordzeit wiederaufgebauten Fenice, ein Jahr
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