Schnee in Venedig
kaiserliche Armee im Feldzug des Jahres 1859. Ich spreche von derselben Affäre, die ein Jahr später zum Selbstmord des Handelsministers geführt hat.»
«Was hat das mit Oberst Pergen und dem Hofrat zu tun?», fragte Tron.
«Es hat eine Reihe von Prozessen im Umkreis dieser Unterschlagungen gegeben, und in einem Prozess hat Pergen als Militärstaatsanwalt fungiert.» Ballani machte eine Pause, bevor er weitersprach. «Dieser Prozess endete mit einem Freispruch für den Hauptangeklagten. Unter interessanten Umständen, wie der Hofrat zufällig herausgefunden hatte. Dumm für Pergen war nur, dass sich auch noch Unterlagen angefunden hatten.»
Tron verstand immer noch nicht, worauf Ballani hinauswollte. «Sie meinen, diese Unterlagen betrafen …»
«… Pergens Rolle bei den Freisprüchen. Der Oberst hat sich bestechen lassen. Die Unterlagen enthielten den Beweis dafür.»
«Dann wäre Pergen also erledigt gewesen, wenn diese Dokumente an die Obrigkeit geraten wären.»
Ballani senkte zustimmend den Kopf. «So ist es. Und ich weiß zufällig, dass der saubere Neffe des Hofrats mit Oberst Pergen bekannt ist.» Er sah Tron vielsagend an. Es war nicht nötig auszusprechen, was er damit andeuten wollte.
«Das sind schwerwiegende Anschuldigungen, die Sie gegen Oberst Pergen und Leutnant Grillparzer erheben», stellte Tron fest.
«Sie haben doch selber gesagt, dass es noch offene Fragen gibt. Jetzt wissen Sie, dass Sie Recht hatten.»
«Aber es gibt leider keine Beweise. Und ohne Beweisekann ich wenig unternehmen. Was denken Sie? Weiß Pergen, dass Sie über diese Papiere informiert sind?»
Ballani zuckte die Achseln. «Schwer zu sagen. Ich habe jedenfalls mit keinem Wort durchblicken lassen, dass ich im Bilde bin.»
«Und jetzt?»
«Warte ich darauf, dass mir jemand die vereinbarte Summe vorbeibringt und dass mein Auge wieder abschwillt.»
Tron erhob sich. «Sie haben mir sehr geholfen, Signor Ballani. Kann ich irgendetwas für Sie tun?»
Ballanis Antwort kam so schnell, als hätte er die Frage bereits erwartet. «Ich denke schon.»
«Und was?»
«Finden Sie heraus, wer den Hofrat wirklich getötet hat», sagte Ballani.
Im Hinausgehen warf Tron noch einen Blick zurück und sah, dass Ballani sich nicht vom Fleck gerührt hatte. Der Musiker starrte ihm nach, den Lappen auf sein verletztes Auge gepresst, so düster wie die trübe Lampe, die einen fahlen Schimmer auf sein Haar warf.
Wenn es stimmte, was Ballani erzählt hatte, dachte Tron, ergab plötzlich alles einen Sinn: die Hast, mit der Pergen den Fall an sich gezogen hatte, der Umstand, dass der Oberst ihm verschwiegen hatte, dass er Leutnant Grillparzer kannte. Und auch für den Streit zwischen Pergen und Grillparzer im Casino Molin war jetzt eine Erklärung möglich: Vielleicht hatte Grillparzer sich geweigert, dem Oberst die Papiere zu überlassen, oder hatte mehr dafür gefordert, als Pergen zu zahlen bereit war. Andererseits blieb immer noch eine Reihe von Fragen offen: Was für eine Rolle spielte das Mädchen in diesem Verbrechen? War es nicht seltsam, dass jemand, der die Absicht hatte, einen Mord zu begehen, sich eine Prostituierte auf die Kabine bestellte? Und schließlich:Wie würde Spaur morgen auf die Geschichte Ballanis reagieren? Würde der Polizeipräsident sie – mit dem Hinweis auf fehlende Beweise – einfach abtun? Oder würde er sich sofort an Toggenburg wenden? Tron konnte sich weder das eine noch das andere vorstellen.
Draußen hatte der Schneefall nachgelassen, doch bis auf ein paar Kinder, die sich vergeblich bemühten, einen Schneemann zu bauen, war der Campo Santa Margherita menschenleer. Tron schlug den Kragen seines Mantels hoch und drückte seinen Zylinderhut fester auf den Kopf. Dann vergrub er die Hände in den Taschen seines Gehpelzes und setzte sich in Bewegung. An der Scuola dei Varotari kam ihm eine alte Frau entgegen, die einen mit Brennholz beladenen Schlitten zog. Hinter ihr stapfte ein hoch gewachsener Mann durch den Schnee, und im Vorbeigehen begegneten seine Augen den Augen Trons.
Es ging viel zu schnell, als dass sie sich hätten begrüßen können – wie es die Höflichkeit erfordert hätte –, aber es reichte aus, dass Tron Oberst Pergen erkannte; Oberst Pergen, der auf dem Weg zu Signor Ballani war.
22
Über Nacht hatte es erneut geschneit, und als Tron am nächsten Morgen zur Questura lief, musste er ohne Überraschung feststellen, dass niemand auf den Gedanken gekommen war, den Schnee in
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