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Schnee in Venedig

Schnee in Venedig

Titel: Schnee in Venedig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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die Kanäle zu schieben oder wenigstens kleine Wege in die fußhohe Schneedecke zu fegen. Wie immer verließen sich die Venezianer darauf, dass ein Wetterumschwung das Problem schon lösen würde, und schienen sich damit zufrieden zu geben, dass der Markusplatz,die Piazzetta und der vordere Teil der Riva degli Schiavoni durch den Einsatz eines kroatischen Jägerregiments vom Schnee befreit wurden.
    Dabei war die Schneedecke so leicht, dass der Wind die oberste Schicht wie Eisnebel durch die Calles wehte – winzige weiße Kristalle, die schwerelos über den Campo schwebten. Bisweilen wirbelte der Nordwind, der seit gestern ununterbrochen über die Stadt fegte, den Schnee auch bis zu Trons Knien hoch, schichtete ihn zu hüfthohen Verwehungen auf oder formte ihn zu Sandhosen aus Pulverschnee.
    Als Tron die Questura gegen elf Uhr erreichte, grüßte ihn die Wache am Campo San Lorenzo fast erstaunt. Offenbar hatte die halbe Questura den starken Schneefall zum Vorwand genommen, zu Hause zu bleiben, was plausibel war, denn in dem Maße, in dem der Schnee die Aktivitäten der Venezianer einschränkte, schränkte er auch die Aktivitäten derjenigen ein, die gegen Gesetze verstießen. Tron wusste aus Erfahrung, dass immer dann, wenn Hochwasser die Stadt heimgesucht oder es – wie heute – sehr stark geschneit hatte, die Zahl der begangenen Delikte drastisch sank – insofern war die Questura auch mit halber Besetzung durchaus in der Lage, alle aufkommenden Probleme zu lösen.
    In seinem Büro beschäftigte sich Tron die erste Dreiviertelstunde erfolglos damit herauszufinden, welcher Esel heute Morgen seinen Ofen geheizt hatte. Der Ofen war lauwarm und rauchte, offenbar war nasses Holz verwendet worden. Die zweite Dreiviertelstunde war der Lektüre der
Gazzetta di Venezia
gewidmet, die auch heute – vermutlich auf Druck Toggenburgs – kein Sterbenswörtchen über die Morde auf der
Erzherzog Sigmund
brachte, sich aber auf der ersten Seite ausführlich mit der geplanten Erweiterung der Gasversorgung auf die andere Seite des Canalazzo beschäftigteund ausdrücklich erwähnte, dass dieses Projekt einem Wunsch des Kaisers entsprach.
    Gegen halb zwei, als Tron sich mittlerweile fragte, ob auch Spaur es für überflüssig gehalten hatte, heute in die Questura zu kommen, steckte Sergente Bossi den Kopf in sein Büro. «Der Baron will Sie sprechen, Commissario.»
    «Sofort?»
    Der Sergente nickte. «Sofort.»
    Einen Stock tiefer klopfte Tron an Spaurs Tür und drückte die Klinke hinunter, als von innen ein Brummen zu hören war, das als Aufforderung gelten konnte einzutreten.
    Der Polizeipräsident hob den Kopf von dem Papier, das er gelesen hatte. Sein Gesichtsausdruck war ernst. «Nehmen Sie Platz, Commissario.»
    Auf Spaurs Schreibtisch (der nur äußerst selten mit Akten in Berührung kam) lag heute ausnahmsweise eine Akte – vermutlich der Bericht Pergens. Daneben standen eine Kaffeekanne, eine Tasse und eine Schachtel Demel-Konfekt. Die kleinen, zusammengeknüllten Papierchen bezeugten, dass sich Spaur bereits reichlich aus der Schachtel bedient hatte. Und natürlich fehlte die Karaffe mit Cognac nicht, die zusammen mit einem kleinen Glas auf einem silbernen Tablett stand. Im Gegensatz zu Trons Büro war es bei Spaur wohlig warm. Der große Kachelofen gab so viel Hitze ab, dass sich Spaur sogar genötigt gesehen hatte, das Fenster eine Handbreit zu öffnen.
    Spaur wartete, bis Tron sich gesetzt hatte. Dann sagte er ohne Einleitung: «Ich hatte heute Morgen ein Gespräch mit Oberst Pergen.»
    «Über den Lloydfall?», erkundigte sich Tron.
    Spaur nickte. «Er hat mich im
Danieli
aufgesucht. Beim Frühstück.»
    Tron musste ein Lächeln unterdrücken. Der Oberst hattegegen eine heilige Regel verstoßen, die er offenbar nicht kannte. Die Regel lautete: Niemals den Polizeipräsidenten beim Frühstück mit dienstlichen Angelegenheiten belästigen, so wichtig sie auch sein mochten.
    «Und was hat er gewollt, Herr Baron?»
    «Er wollte sich an meinen Tisch setzen.» Die Empörung in Spaurs Stimme war nicht zu überhören.
    «An Ihren   …»
    «An meinen kleinen Zweiertisch, Commissario.» Den er deshalb bevorzugte, damit niemand auf den Gedanken kommen konnte, ihm Gesellschaft zu leisten.
    «Und hat er sich zu Ihnen   …»
    Spaur schnaubte. «Er hat. Es war nicht zu vermeiden. Er hat sich einfach gesetzt. Ohne auf meine Aufforderung zu warten.» Der Blick, den er Tron dabei zuwarf, sagte deutlich, dass er den Oberst für einen

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