Schnee in Venedig
denSpiegel. Im Gegenteil: Sie vermeidet es jetzt, in den Spiegel zu gucken, denn sie will keine langsame Verwandlung sehen, sondern den fertigen Effekt. Sie will sehen, was auch die Leute sehen werden, denen sie begegnen wird. Also fährt sie fort, sich in sorgfältigem Wechsel Watte in den Mund zu schieben, ein Kügelchen links, ein Kügelchen rechts. Sie tut es so lange, bis sich ihre Wangen im unteren Bereich sichtbar spannen und sie sich der heikelsten Partie zuwenden kann: der Polsterung zwischen Zahnfleisch und Oberlippe. Natürlich darf die Baumwolle nicht zu sehen sein, wenn sie den Mund öffnet, um zu sprechen, und selbstverständlich darf sie ihr nicht aus dem Mund fallen.
Acht Uhr, und die Glockenschläge des Campanile dringen in ihr Ankleidezimmer. Die Königseggs haben den Palazzo Reale vor einer halben Stunde verlassen, nicht ohne sich vorher von ihr zu verabschieden – mit schuldbewussten Mienen, denn de facto läuft es wieder mal auf einen dienstfreien Abend hinaus. Und die Wastl? Der Wastl hat sie gesagt, dass sie sich früh zu Bett legen möchte – das sagt sie immer, wenn sie nach dem Abendessen keine Störungen mehr wünscht, und vermutlich ist die Wastl jetzt auch gar nicht mehr in ihrem Kabuff auf der anderen Seite des Flures, sondern unten in der Küche – auch dort wäre sie per Klingelzug jederzeit erreichbar.
Elisabeth stopft sich ein letztes Wattekügelchen zwischen Wange und Zahnfleisch, sagt noch einmal «Pfeifkonzert», was inzwischen ein wenig wie «Cheifkonchert» klingt, aber immer noch gut verständlich ist, und blickt in den Spiegel.
Sie sieht das Gesicht einer Frau, die mindestens zehn Jahre älter ist als sie. Die Wattekügelchen haben den unteren Teil ihrer Wangen nach außen getrieben, zugleich hat sich ihr Unterkiefer ein wenig nach vorne geschoben, was ihr den Ausdruck eines jungen Rottweilers verleiht. Unten aufder Piazza, denkt sie, könnte sie als robuste Offiziersgattin durchgehen oder als junge Gesellschafterin einer Generalswitwe, als Reisebegleiterin, die auch mal einen Koffer anpacken kann, ohne dass ihr ein Zacken aus der Krone fällt. Jedenfalls ist die Maskierung perfekt. Einmal, weil sie als solche nicht zu erkennen ist – es gibt genug Frauen mit dominanten Unterkiefern –, und zum Zweiten, weil die Kügelchen auch ihre Stimmlage verändert haben; Elisabeth spricht jetzt eine Tonlage tiefer, ihre Stimme hat ein knurrendes Timbre, das sie am liebsten sofort ausprobieren würde.
Chetzt geche ich chal runter auf die Chiazza,
sagt sie laut, wobei sie ihre Sprachbehinderung ein wenig übertreibt. Dann muss sie auf einmal loslachen und stellt dabei fest, dass sie das nicht darf, denn beim Lachen verrutschen die Kügelchen in ihrem Mund, und sie braucht eine Weile, um sie mit ihrer Zunge und dem Zeigefinger wieder an ihren Platz zu schieben.
Ein wenig später steht Elisabeth unter den Arkaden der neuen Prokurazien und schlägt den Kragen ihres braunen Stoffmantels hoch. Es ist fast windstill, Tauben flattern über der Piazza, die ansonsten erstaunlich leer ist. Zwei Priester überqueren den Platz, sie kommen von San Marco und gehen an einer Gruppe von Offizieren vorbei, die sich in der Mitte des Platzes versammelt haben; auf der anderen Seite der Piazza, vor den Pforten von San Marco, spielen ein paar Kinder. Die Luft ist frisch, fast mild. Es riecht nach Salz und nach gefrierendem Seetang, es ist derselbe Geruch, den sie morgens riecht, wenn die Wastl ihre Fenster öffnet, nur ist der Geruch hier ungleich intensiver, was Elisabeth unlogischerweise darauf zurückführt, dass sie zum ersten Mal seit ihrer Ankunft im Oktober vergangenen Jahres ohne ihre übliche Eskorte unterwegs ist – ohne die Königseggs undohne das halbe Dutzend Offiziere, die für ihre Sicherheit sorgen.
Elisabeth setzt genussvoll einen Fuß vor den anderen, folgt sogar, wie ein Kind, für ein paar Schritte dem weißen Muster auf den Steinplatten, drei Schritte nach links, zwei Schritte nach rechts. Das Aufsetzen ihrer Füße auf die Platten spürt sie kaum, ihr kommt es vor, als würde sie eine Handbreit über dem Boden schweben, so leicht und schwerelos fühlt sie sich. Sie wird ein bisschen herumlaufen, vielleicht ein paar geröstete Maronen kaufen (sie hat einheimisches Geld eingesteckt) und dann bis zum
Danieli
oder wenigstens bis zum Molo vorstoßen – in ihrem braunen Wollmantel, der bis zu ihren Knöcheln herabreicht, den Schaft ihrer geknöpften Stiefel bedeckt und, da er
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