Schnee in Venedig
des Mädchens auf der Liste.»
Später sagte Haslinger, er hätte an ein Tier denken müssen, das plötzlich aus dem Dschungel auf sie zuschoss. Tatsächlich schritt Tommaseo eher langsam hinter einer der mannshohen Palmen hervor, die in Kübeln zwischen den Tischen des Salons standen. Als er den Tisch erblickte, an dem Tron und Haslinger saßen, trat er näher. Seine grauen Augen streiften den Champagnerkübel mit einem verächtlichen Blick. Tommaseo trug eine Kutte aus anthrazitfarbenem Wollstoff, die nach Art der Mönche mit einer Kordel zusammengegürtet war. Auf seiner Brust hing eine Kette mit einem schlichten Holzkreuz. Er sah aus wie ein Schauspieler, der einen Mönch spielt.
«Herr Oberleutnant», sagte Tommaseo.
Das galt Haslinger. Tron registrierte überrascht, dass sich die beiden kannten.
An Tron gewandt sagte Tommaseo: «Schrecklich, das mit Moosbrugger. Bearbeiten Sie den Fall?» Er sprach auf einmal deutsch.
«Das Lloydpersonal», sagte Tron, «zählt zum Militär. Wir haben den Fall abgegeben. Woher wissen Sie, dass Moosbrugger ermordet worden ist?»
«Pater Ignazio von San Stefano hat es mir gesagt. Gibt es einen Verdacht?»
«Bis jetzt noch nicht.»
Tommaseo wiegte nachdenklich den Kopf. «Erinnern Sie sich an unser Gespräch in der Sakristei?» Er lächelte ein kühles, kaum wahrnehmbares Lächeln, an dem seine Augen nicht beteiligt waren.
«Ja, sicher», sagte Tron.
«Wir sprachen über die Sünde und darüber, dass niemand dem Schwert des Herrn entkommen kann.» Tommaseo musterte Tron düster. «Nun, der Herr hat schneller Gerechtigkeit walten lassen, als wir alle erwartet hatten.»
«Sie meinen, der Mörder Moosbruggers war» – wie hatte Tommaseo sich ausgedrückt? – «ein Werkzeug des Herrn?»
«Er hat den Willen des Herrn vollzogen.» Tommaseo nickte grimmig.
«Bedeutet das auch, dass der Herr seine schützende Hand über sein Werkzeug hält?», fragte Tron.
Tommaseo warf ihm einen misstrauischen Blick zu. «Ich kenne die Wege des Herrn nicht. Ich weiß nur, dass wir blind sind bis zur Wiederkehr des Erlösers. Bis dahin erblicken wir alles
per speculum in enigmate
.» Er hielt inne. Seine Lippen verzogen sich zu einem freudlosen Lächeln. Dann machte er abrupt auf dem Absatz kehrt und verließ den Salon.
Haslinger zog seine Stirn in Falten. «Was hat er denn damit gemeint?
Per speculum in enigmate?
Durch einen Spiegel in einem dunklen Wort?»
«Dass der Mörder vielleicht nie gefasst wird. Jedenfalls nicht in dieser Welt. Das hat er damit gemeint. Sie kennen sich?»
Haslinger nickte. «Tommaseo ist ein ehemaliger Offizierder kaiserlichen Armee. Wir waren beide Mitte der vierziger Jahre in Pesciera. Er hat 1850 den Dienst quittiert.»
«Hatten Sie viel mit ihm zu tun?»
Haslinger schüttelte den Kopf. «Nur dienstlich. Wir haben kaum miteinander geredet.»
«Ich dachte, er wäre Venezianer.»
«Sein Vater war ein österreichischer Rittmeister, seine Mutter eine Italienerin. Er kam unehelich zur Welt. Sein Vater wollte das Verhältnis später legalisieren und ihm seinen Namen geben, aber Tommaseo hat das abgelehnt. Er hat den Namen seiner Mutter behalten.»
«Ich war überrascht, als er eben deutsch sprach», sagte Tron.
«Selbstverständlich kann Tommaseo Deutsch. Aber er hasst diese Sprache genauso, wie er seinen Vater gehasst hat.»
«Tommaseo hat gewusst, was Moosbrugger auf dem Schiff getrieben hat», sagte Tron. «Er hat es durch einen Zufall erfahren und sich daraufhin an den Patriarchen gewandt.»
«Und?»
«Man hat ihm Stillschweigen verordnet. Das hat ihn empört», sagte Tron.
«Kein Wunder, dass er den Tod Moosbruggers nicht beklagt.»
«Was halten Sie von Pater Tommaseo?», fragte Tron.
«Wie meinen Sie das?»
«Dieses Gerede vom Mörder als Werkzeug des Herrn – ist das nicht grotesk? Und dann die Andeutung, dass der Mord nie aufgeklärt werden könnte. Ich frage mich, ob mir Tommaseo alles gesagt hat, was er weiß.»
«Warum sollte Pater Tommaseo Moosbruggers Mörder decken?»
«Weil er ihn für ein Werkzeug des Herrn hält», sagteTron. «Was hatten Sie damals für einen Eindruck von Tommaseo? Beim Militär?»
Haslinger überlegte einen Moment. Dann sagte er: «Leutnant Tommaseo war nicht besonders beliebt. Hielt sich immer abseits. Trank nicht, spielte nicht. Ich glaube, er hat die Armee gehasst. Aber das besagt gar nichts. Das tun viele.»
«Viele Italiener.»
«Und viele Österreicher», sagte Haslinger.
«Weshalb hat er seinen
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