Schnee in Venedig
betritt, um den Tisch abzuräumen, stellt sie erstaunt fest, dass die Kaiserin am Fenster steht und lauthals lacht. Als sie daran denken muss, wie die beiden Sergeanten den Oberhofmeister gestern im
Paillo Gioccolante
abgeschleppt haben, muss sie ebenfalls lachen. Eigentlich gefällt ihr die Gräfin Hohenembs besser als die Kaiserin, aber manchmal ist auch die Kaiserin schwer in Ordnung.
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Emilia Farsetti erhob sich alle fünf Minuten von ihrer Holzpritsche und sah aus dem Fenster. Das Fenster hatte vergitterte Scheiben, und der Blick durch die Stäbe zeigte ein verschneites Dach, dahinter ein paar flache Gebäude und hinter den Gebäuden die Lagune. Emilia Farsetti fror, und sie hatte Angst. Ihre Zelle war kaum größer als die schmale Holzpritsche, auf der sie die Nacht verbracht hatte. Heute im Morgengrauen, als ihr Herz plötzlich anfing zu rasen, war sie fast verrückt geworden. Sie hatte von Leuten gehört, die man nur in eine kleine Gefängniszelle sperren musste, um sie ihren Verstand verlieren zu lassen. Inzwischen war ihr klar, dass sie zu diesen Leuten gehörte.
Dieser Oberst Pergen hatte sie gestern im
Café Florian
verhaftet und am Abend in das Militärgefängnis auf die Isola di San Giorgio gebracht. Das, was Pergen wollte, hatte sie vorsichtshalber unter den Bodenbrettern eines
sándalos
versteckt. Das Boot lag an der Sacca della Misericordia, am anderen Ende Venedigs. Es war das beste Versteck der Welt. Der Oberst hatte keine Chance, es zu finden, aber trotzdem, dachte Emilia Farsetti, war das alles keine gute Idee gewesen.
Dass sie den großen und den kleinen Umschlag in der Kabine der
Erzherzog Sigmund
an sich genommen hatte, war ein reiner Reflex gewesen. Frauen in ihrer Lage waren auf funktionierende Reflexe angewiesen, und insofern hatte sie sich keinen Vorwurf zu machen. Allerdings hatte sie anschließend eine Reihe von falschen Entscheidungen getroffen. Vor allen Dingen hatte sie diesen Oberst Pergen falsch eingeschätzt.
Niemand hatte am Sonntag auf die Zeugenaussage einer hysterischen Putzfrau Wert gelegt. Und so war Emilia Farsettinach Hause geeilt, hatte sich an ihren Küchentisch gesetzt und die Beute untersucht. Natürlich wäre ihr ein Ring oder ein schönes Taschentuch (beides ließ sich leicht verkaufen) lieber gewesen als diese beiden Umschläge, aber Umschläge mit eingeprägten goldenen Kronen konnten alles Mögliche enthalten – warum nicht auch Geld?
Doch in dem Umschlag mit der Krone befand sich kein Geld, sondern lediglich ein einseitig (und offenbar auf Deutsch) beschriebenes Blatt Papier, dessen Unterschrift nicht zu entziffern war – jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Emilia Farsettis Deutsch war nicht besonders gut, und es dauerte eine halbe Stunde, bis sie keinen Zweifel mehr daran hatte, dass es sich bei dem Bogen um einen Brief des Kaisers an die Kaiserin handelte. Offenbar war der Tote in der Kabine ein kaiserlicher Kurier gewesen.
Der andere Umschlag enthielt ein Dutzend zusammengefalteter Bögen im Kanzleiformat, aus denen Emilia Farsetti zuerst nicht schlau wurde. Es schien sich um einen Bericht zu handeln, der für den Oberkommandierenden der kaiserlichen Truppen in Venetien bestimmt war. Als sie das erste Dokument überflogen hatte, schloss sie ihre Wohnungstür ab und verhängte die Fenster. Ein paar Stunden später hatte sie das Konvolut mindestens zehnmal gelesen und war sich sicher, dass sie eine Menge Geld damit machen würde.
Das erste Dokument war ein fünfseitiger Bericht über die Hintergründe, die vor drei Jahren zum Freispruch hochrangiger Offiziere aus dem Materialbeschaffungsamt im Wehrbezirk Verona geführt hatten. Der Militärstaatsanwalt, der die Anklage führte, ein Oberst Pergen, hatte Beweismaterial zugunsten der Angeklagten manipuliert und dafür die Hand aufgehalten.
Der Rest des Konvoluts bestand aus Briefen von vierverschiedenen Banken, die für den Oktober 1860 die Eingänge großer Summen auf das Konto dieses Pergen bestätigten. Zwei der Banken waren in Zürich, eine in Paris und eine in Berlin. Was sie dazu bewogen haben mochte, eine solche Auskunft zu geben, wusste Emilia Farsetti nicht. Entscheidend war, dass sie es getan hatten und dass dieser Pergen damit praktisch erledigt war.
Die einzige Schwierigkeit lag darin, dass sie keine Ahnung hatte, wer dieser Pergen war und ob er hier in Venedig stationiert war. Aber das herauszufinden war nur eine Frage der Zeit.
Am Mittwoch wusste Emilia Farsetti, dass es einen Oberst
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