Schnee in Venedig
Grappaflasche lag und jede Diskussion überflüssig machte.
«Abführen», sagte Sergeant Semmelweis trocken. Er war ein wenig bleich, als er das sagte. Aber das war er auch manchmal, wenn er es zu Hause in Wien mit schwierigen Fällen zu tun hatte.
«Was ist mit der Frau?», fragte einer der Soldaten.
Die graue Maus war aufgesprungen. In ihren Augen standen Tränen.
Sergeant Semmelweis sagte: «Nehmt sie auch mit.»
Er sah, wie die Soldaten den Mann und die graue Maus an die Gruppe übergaben, die für die Überführung zum Sammelpunkt zuständig war.
Sergeant Semmelweis lächelte befriedigt. Auch das hatte wie am Schnürchen geklappt.
Am nächsten Tisch – dem letzten Tisch, der noch zu kontrollieren war – saßen zwei Frauen und ein Mann. Der Mann, dachte Sergeant Semmelweis, könnte seiner Frisur nach ein Armeeangehöriger sein, jemand, der das Recht hatte, Zivilkleidung zu tragen, sonst würde er jetzt nicht so ruhig auf seinem Stuhl sitzen. Eine der Frauen sah aus wie ein Dienstmädchen, das seinen freien Tag hatte, vielleicht eine Kammerzofe. Die andere Frau, eine schlanke Frau mit dunklen, vor Schreck geweiteten Augen, deren Gesicht an einen Hamster erinnerte, mochte als Hausdame oder als Gouvernante arbeiten. Sergeant Semmelweis hatte in seinem Zivilberuf einen ausgeprägten Sinn für gesellschaftliche Unterschiede entwickelt. Er würde nie eine Gouvernante mit einer Köchin oder einer Kammerzofe verwechseln.
Er legte grüßend die Hand an seine Mütze. «Wenn Sie sich bitte ausweisen würden.»
Sergeant Semmelweis lächelte höflich, als müsste er sich für den Auftritt am Nebentisch entschuldigen, was natürlich albern war, denn er hatte lediglich seine Pflicht getan. Bei diesen Razzien fühlte er sich wie ein Kontrolleur, der auf der Wiener Pferdebahn nach Schwarzfahrern fahndete. Tatsächlich hatte er genau das getan, bevor sie ihn vor drei Jahren eingezogen hatten.
33
Der Tisch an der rechten Wand des Lokals, den Ennemoser ausgesucht hat, ist eine kluge Wahl gewesen, solange es nur darum ging, sich ungestört zu unterhalten und dabei den Rest der Gaststätte im Auge zu haben. Für den Fall jedoch, dass man gezwungen ist, sich während einer Razzia unauffällig zu entfernen, kann der Tisch gar nicht ungünstiger platziert sein. Um zum Hinterausgang zu gelangen, müsste Elisabeth das ganze Lokal durchqueren, aber das wäre sinnlos, denn vor dem Hinterausgang steht selbstverständlich auch ein Posten.
Außerdem ist es jetzt zu spät. Der Sergeant, der eben dafür gesorgt hat, dass die Königseggs abgeführt wurden, steht an ihrem Tisch und will ihre Legitimationen sehen.
Ein paar Sekunden lang steckt Elisabeth im Würgegriff einer so grenzenlosen Panik, dass sie völlig außerstande ist zu reagieren, geschweige denn, einen klaren Gedanken zu fassen. Es grenzt an ein Wunder, dass sie noch atmen kann.
Später fällt ihr ein, dass sie nur ein einziges Mal in ihrem Leben etwas Ähnliches empfunden hat. Das war, als ihr Brautschiff am 23. April 1854 in Nußdorf ankam und ihr angesichts der riesigen Menschenmenge zum ersten Malklar wurde, was es bedeutete, Kaiserin von Österreich zu werden.
Am Landungsplatz warteten der Kaiser, die höchsten Würdenträger und Tausende von Schaulustigen, während sie versuchte, die weiche Frühlingsluft einzuatmen, von der es eben noch genügend gegeben hatte, die nun aber anderswohin geweht worden zu sein schien. Wie aus weiter Ferne hörte sie den Jubel der Menge, die Salutschüsse der Linzer Gebirgsjäger, die Lieder der angetretenen Kinderchöre, und sie konnte nur noch denken: Ich sterbe. Wien ist weniger als fünf Meilen entfernt, aber ich werde es nie sehen, weil ich gleich tot bin.
Und dann hat sich der Krampf damals gelöst. Elisabeth hat tief und keuchend Luft geholt und ist in Tränen ausgebrochen, als Franz Joseph auf das Schiff gesprungen ist, sie umarmt und vor aller Welt geküsst hat.
Sie fühlt sich jetzt wie auf dem Schiff: in genau demselben Zustand völligen körperlichen Stillstands. Sie sitzt auf dem Stuhl, hält ihre kleine Handtasche (in der sich kein Passierschein befindet) mit weißen Knöcheln umklammert und fragt sich, warum nicht alle auf ihren Tisch starren, wo doch ihr Herz so laut und so wild schlägt, dass man es eigentlich noch draußen vor der Tür hören müsste.
Aber dann löst sich der Krampf, so wie er sich damals gelöst hat. Ihr Herz macht zwei wilde Sprünge und nimmt seinen regulären Rhythmus wieder auf – wenn
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