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Schnee in Venedig

Schnee in Venedig

Titel: Schnee in Venedig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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man davon absieht, dass es immer noch zu schnell schlägt, viel zu schnell. Allerdings bezweifelt sie, ob es überhaupt wünschenswert ist, dass ihr Herz wieder schlägt: Einen Augenblick lang fasziniert sie die Vorstellung, bewusstlos auf dem Tisch zu liegen – aller Sorgen ledig.
    Die Wastl und Ennemoser haben ihre Legitimationen vorgelegt, und der Sergeant hat sie ihnen nach flüchtigerPrüfung zurückgegeben. Jetzt steht er direkt neben ihr und lächelt freundlich auf sie herab, während die ersten Soldaten sich schon zum Abmarsch bereitmachen.
    Elisabeth hat ihre Handtasche – eine schlichte Tasche mit einer Kordel als Griff und einem Futter aus gelblichem Leinen – bereits mehrmals durchsucht und beginnt jetzt damit, die Gegenstände aus ihrer Tasche einzeln vor sich auf den Tisch zu legen: ein Taschentuch, eine Puderdose, einen Taschenspiegel, einen schwarzen Atlasfächer und ein Paar Handschuhe, alles Artikel von bescheidener Qualität und aus dem Besitz der Wastl. Wie jeder sehen kann, ist ihre Legitimation nicht dabei.
    Also nimmt Elisabeth ihre Handtasche, dreht sie um und schüttelt sie – ergebnislos. Sie kehrt das Futter nach außen, aber auch das fördert nichts zutage. Auch auf dem Fußboden unter dem Tisch ist das Papier nicht zu entdecken, ebenso wenig in den beiden Taschen ihres Kleides, die sie hektisch durchsucht.
    Und schließlich fängt sie an zu heulen. Zum einen, weil ihr danach zumute ist, zum anderen, weil es nie schaden kann, wenn eine junge Frau in Bedrängnis ein paar Tränen vergießt. Dann putzt sie sich die Nase, schließt die Augen, so fest sie kann, und wartet auf ein Wunder.
     
    Als Elisabeth ihre Augen wieder öffnet, steht das Wunder vor ihr. Es trägt die Uniform eines Leutnants der kroatischen Jäger, ist nicht besonders groß und hat zwei Schneidezähne, so groß wie Klaviertasten.
    Das Wunder nimmt Haltung an, als es Elisabeths Blick auf sich spürt. Es schlägt die Hacken zusammen und salutiert. Dann wirft es Sergeant Semmelweis einen vernichtenden Blick zu, greift in die Tasche und zieht ein blütenweißes Taschentuch hervor.
    «Wenn Durchlaucht gestatten», sagt Leutnant Kovac freudig. Er strahlt über das ganze Gesicht. Seine Schweinsäuglein sind zu kleinen Punkten geschrumpft, und Elisabeth kann sehen, dass auch seine restlichen Zähne so groß wie Klaviertasten sind.
    Elisabeth nimmt das Taschentuch, das Leutnant Kovac ihr gereicht hat, und tupft sich die Augen ab. «Ich hatte nicht erwartet, dass wir uns so schnell wiedersehen würden, Herr Leutnant.» Sie stößt ein kleines, verwirrtes Lachen aus. Die Wattekügelchen in ihrem Mund haben sich ein wenig verschoben, aber es ist nicht schwierig, sie mit der Zungenspitze zurückzuschieben.
    «Gab es Probleme mit einem meiner Leute?», fragt Kovac.
    Elisabeth schüttelt den Kopf. Sie wirft einen milden Seitenblick auf den Sergeanten, der die Szene mit offenem Mund beobachtet. «Ich fürchte, Ihr Sergeant hatte ein Problem mit
mir
.» Wieder ein kleines, verwirrtes Lachen.
    «Wie das?» Kovac runzelt besorgt die Stirn.
    «Ich scheine meinen Passierschein verloren zu haben», sagt Elisabeth. Das entspricht im Prinzip den Tatsachen, und weil es so ist, kommen Elisabeth wieder die Tränen. Sie gibt sich keine Mühe, sie zurückzuhalten.
    «Ich dachte bereits, es würde mir genauso ergehen wie diesen   …» Elisabeth macht ein verzweifeltes Gesicht, «wie diesen Leuten am Nebentisch.»
    «Hat der Herr am Nebentisch Durchlaucht belästigt?»
    Elisabeth schüttelt den Kopf. «Nein, das hat er nicht. Was geschieht mit diesen Leuten?»
    Kovac zuckt mit den Achseln. «Wir sammeln sie draußen in der Scuola dei Varotari, bis ihre Identität festgestellt werden kann.»
    «Und was geschieht mit mir?»
    «Wie meinen Durchlaucht?»
    «Werden Sie mich auch mitnehmen?» Elisabeth schießt einen koketten Blick auf Kovac ab.
    Der lächelt geschmeichelt. «Durchlaucht sind mir persönlich bekannt. Es gibt keinen Grund für eine Festnahme.»
    «Dann kann ich also gehen?»
    Kovac verbeugt sich. «Selbstverständlich.»
     
    Eine halbe Stunde später unterschreibt Elisabeth einen Blankopassierschein, den die Wastl aus dem Salon der Königseggs geholt hat. Dabei steht sie unter den Arkaden der neuen Prokurazien und benutzt den Rücken Ennemosers als Schreibunterlage, während die Wastl das Glas mit der Tinte hält. Als Elisabeth den Palazzo Reale betritt und ihre Legitimation vorlegt, wirft der wachhabende Offizier nur einen flüchtigen

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