Schneebraut
jetzt ein erwachsener Mann geworden. An einen neuen Ort gezogen, in den Norden nach Siglufjörður. Zuweilen versuchte er, diese Jahre zu vergessen, es fiel ihm aber schwer, die Gedanken an diejenigen zu ignorieren, die er am allerschlimmsten behandelt hatte. Er erinnerte sich an alle Namen, hatte versucht, sie alle aufzuspüren, nachdem er zur Vernunft gekommen war. Hatte um Vergebung gebeten. Die meisten hatten das gut aufgenommen, wenn auch einige besser als andere. Manche schienen sich gänzlich erholt zu haben, zumindest äußerlich betrachtet, andere aber waren abgestumpfter, erteilten die Vergebung nur widerwillig.
Er hatte außer einem alle erreicht. Konnte ihn im Telefonbuch nicht finden, beim amtlichen Einwohnermeldeamt auch nicht … fand ihn nicht, bis ihm einfiel, in alten Zeitungen im Internet zu suchen – dort tauchte der Name bei den Nachrufen auf. Er las sie immer und immer wieder, man konnte es zwischen den Zeilen lesen, dass der Mann sich das Leben genommen hatte. Der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn, als er das realisierte. Daran war kaum die Ausgrenzung schuld … kaum er. Kaum, nach all der Zeit. Er hatte noch immer keinen Kontakt mit den Angehörigen des Mannes aufgenommen. Er wollte aber dennoch mit ihnen reden – sich vergewissern, dass etwas anderes der Grund für den Selbstmord gewesen war – zögerte aber. Befürchtete, dass er im Gegenteil eine Bestätigung dessen erhalten würde, was er vermutete.
Warum war er so gewesen … so böse?
Er hatte es geschafft, mit einem alten Schulkameraden, dem es aufgrund der schlechten Behandlung durch ihn ganz mies ergangen war, eine gute Beziehung aufzubauen. Der war jetzt Journalist im Süden. Sie hatten sich vor einigen Jahren auf einen Kaffee getroffen, um über vergangene Zeiten zu reden, und danach noch zwei-oder dreimal. Das schlechte Gewissen war manchmal unerträglich, er wollte alles tun, um diesem Mann das Leben zu erleichtern. Er wollte denjenigen helfen, denen er immer noch helfen konnte, wollte seine Reue zum Ausdruck bringen. In gewissen Fällen – ja, mindestens in einem – war es zu spät.
Manchmal musste er die Regeln etwas zurechtbiegen, um alte Sünden wettzumachen. Er bereute es in der Tat nicht, dass er dem Journalisten die Informationen zugespielt hatte. Das war das Mindeste, was er hatte tun können. Das waren die ersten großen Neuigkeiten im Dorf, seit er nach Norden gezogen war – er konnte nicht anders, als seinem alten Schulkameraden die Gelegenheit zu geben, als Erster diese Nachricht zu verkünden.
Auch wenn er Tómas anlügen und sich sein endloses Gemurre anhören musste.
Hlynur schaute zum Fenster hinaus; er hatte heute keinen Dienst. Er saß eine Weile da und schaute zu, wie sich der Schnee auftürmte. Die Schneeverwehungen wurden immer höher, die Dunkelheit umhüllte alles.
***
»Das sieht nicht gut aus.« Tómas runzelte die Stirn, er hatte gerade ein Telefongespräch geführt. Ari saß immer noch auf der Wache, hatte zu Hause nichts zu tun.
»Nanu? Was?«
»Linda. Sie ist immer noch nicht wieder bei Bewusstsein, die Ärzte im Süden stellen keine Veränderung fest, eher im Gegenteil – ihr Zustand scheint sich zu verschlechtern.«
»Haben sie Kalli informiert?«
»Ja, sie stehen regelmäßig mit ihm in Kontakt.«
»Und wie hat er reagiert?«
»Er sagte, dass er bei der erstbesten Gelegenheit in den Süden fahren wird. War soweit besonnen, sagte der Arzt. Ich glaube eher, dass das nicht das richtige Wort ist.« Er schaute Ari mit ernster Miene an, beinahe als ob er darauf warte, dass Ari übernehme.
»Sie ist ihm egal.« Ari beobachtete die Reaktion seines Vorgesetzten.
Tómas nickte.
»Ich glaube, dass du da recht hast. Ich verstehe es einfach nicht«, sagte Tómas.
»Er hält irgendetwas zurück«, sagte Ari, wandte sich wieder dem Rechner zu und hörte Tómas etwas vor sich hin murmeln, vielleicht zu ihm, vielleicht zur Tasse.
Er hält etwas zurück
. Er suchte eine Mailadresse auf der Liste der Partner der Polizei im Ausland. Es war Zeit geworden, um alle möglichen Informationen über diesen Mann zusammenzustellen.
Er schrieb die Mail in Eile und schickte sie ab. Nun galt es abzuwarten. Falls das etwas bringen würde, könnte er Karl mit einem starken Trumpf in der Hand begegnen.
Noch immer tauchte Ugla in seinen Gedanken auf.
Ugla und Karl? War das das Geheimnis, das Hrólfur aufgedeckt hatte?
Nein, zum Teufel nochmal. Nicht Ugla.
Einen Augenblick lang zweifelte er an seinem
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