Schneeflockenbaum (epub)
Briefmarke«, sagte sie.
Wir gingen weiter. Eine Rohrammer murmelte ihr Abendgebet, ein kleiner Rohrsänger räusperte sich, ein Fitis sang verwirrt sein trauriges Lied.
Als wir das Wijde Aa in vollem Glanz vor uns sahen und ich ihr noch Bachbunge gezeigt hatte, die dort immer an derselben Stelle üppig am Wasser wächst, gingen wir auf der anderen Seite des Wegs den sanft abfallenden Deichhang hinab.
Die ersten Orchideen tauchten auf, und ich gestand ihr, dass ich nicht wusste, um welche Orchidee es sich handelte, um das Übersehene Knabenkraut, das Gefleckte Knabenkraut oder um das Männliche Knabenkraut oder vielleicht sogar um das Helmknabenkraut oder das Kleine Knabenkraut. »Wahrscheinlich haben wir es hier mit einem Hybrid aus all diesen Arten zu tun. Diese promisken Orchideen treiben es wie wild miteinander, und daraus entstehen dann lauter Kreuzungen ...
»Wie aus Pferd und Esel«, sagte sie.
»Genau. Und nun schauen wir, ob es schon Natternzungen gibt.«
Natternzunge, so außergewöhnlich sie auch sein mag, ist eine unscheinbare Pflanze, die man übersieht, wenn man aufrecht einen sanft abfallenden Deich hinuntergeht, auf dem hochgewachsene Braunsegge steht. Ich ging also in den Vierfüßlerstand und kroch zwischen den Grashalmen herum. Sie folgte meinem Beispiel, und zusammen krabbelten wir durch das hohe Gras.
»Wie sieht die Pflanze aus?«
»Sie besteht aus einem aufrechten, ovalen Blatt, das halb zusammengerollt ist, und aus der so entstandenen Röhre ragt das Sporophyll empor.«
Weil man in der Dämmerung, zumal kriechend, nicht alle Bodenunebenheiten erkennt, geriet sie mit einem Knie in eine Kuhle und verlor das Gleichgewicht. Ich bekam sie zu fassen, ehe sie ganz umkippen konnte, und vor lauter Schreck hielt sie sich auch an mir fest. Dann gab es plötzlich kein Halten mehr. Als wäre es vollkommen selbstverständlich und eine natürliche Folge unserer Exkursionen, bei denen wir uns über klebrige Stempel und kecken Blütenstaub gebeugt hatten, vollzogen wir in erstaunlichem Tempo all jene Handlungen, die der eigentlichen Paarung vorausgehen: Betasten, Streicheln, Küssen. Als wir anschließend, noch keuchend, im hohen Gras lagen, war mein Blick klarer geworden, und ich entdeckte in unserer Nähe ganz ohne Suchen Natternzunge, aber das war für den Moment nicht wichtig. Alle Geräusche kehrten wieder, die murmelnden Singvögel, die leise pfeifenden Wiesenvögel, der etwas schrillere Abendgesang des Austernfischers und das raspelnde Geräusch eines Schwarms vorbeifliegender Schwäne.
Wir waren früh genug wieder in Leiden, um das Ganze in ihrem Zimmer über einer Zahnarztpraxis am Plantsoen noch einmal in aller Ruhe zu wiederholen. Vielleicht weil wir beide uns über die hemmungslose, schamlose Leidenschaft am Wijde Aa wunderten und wir uns gegenseitig beweisen wollten, dass wir auch zivilisierter miteinander schlafen konnten. Aber die Sache lief erneut hoffnungslos aus dem Ruder. Es war, als sehnten sich unsere Körper, vollkommen unabhängig von unserem Willen, so heftig nacheinander, dass es beinahe beängstigend war. Und so beängstigend blieb es auch in den Wochen danach, so vollkommen losgelöst von Gott, so heftig, so wild, so feurig, so ungestüm, so hemmungslos. Hinterher lagen wir jedes Mal da und schauten einander erschrocken an, bis wir dann schließlich in ein befreiendes Lachen ausbrachen.
Sie sagte oft: »Was ist hier los? Das habe ich noch bei keinem erlebt. Wer bist du, dass du dies in mir bewirkst?«
»Ich könnte dich dasselbe fragen.«
»Wie kriegen wir den Geist wieder in die Flasche?«
»Muss er das denn? Zurück in die Flasche?«
Genetisches Risiko
A nfangs recht verschämt, doch mit der Zeit immer weniger gehemmt, trieben wir es den ganzen Frühling über »wie läufige Katzen«, um Lorna zu zitieren, so als lebten wir unter einer gläsernen Glocke. Vor allem abends wuchsen unserer zügellosen Brunst, die wir in ihrem Zimmer über der Zahnarztpraxis auslebten, Flügel. Dort war es nach sechs dunkel und still, sodass »niemand meine hohen a hört, wenn ich komme«, wie Lorna sagte.
Nach den hohen a hörten wir jedes Mal unsere Liebesmusik, »Nuit paisable et sereine« aus Bé atrice et Bénédict von Berlioz, und plauderten miteinander. Die eigenartige Logik von Eros will, dass Liebende nach dem Geschlechtsakt einander zuerst ihre amouröse Vergangenheit offenlegen, ehe über die Zukunft gesprochen werden kann. Dabei ist es durchaus üblich, sich gegenseitig
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