Schneegeflüster
etwas passieren. Es war das letzte, das ihr noch geblieben war. Lilo und Lea, die an Kinderkrankheiten gestorben waren, Bastian, der vom Jungscharlager nicht mehr zurückgekommen war … Das Schicksal meinte es nicht gut mit ihr. Und Hannes. Er litt so sehr unter dem Verlust, dass er nicht mehr sprechen konnte. Zumindest nicht mit ihr. Aber jetzt war ja Jeremias da. Sie musste die Entführung vor Hannes geheim halten, das wäre zu viel für ihn. Das Dumme war nur, dass sie nicht wusste, wer dahintersteckte. Jedenfalls sehr böse Menschen, die vor nichts zurückschreckten. Sogar im Dom hatten sie ihr aufgelauert. Aber sie hatten nicht mit ihrer exzellenten Ausbildung in Selbstverteidigung gerechnet. Wie ein Stück Holz war der Mann umgekippt. Recht so. Und in dieses Frauenheim würden sie nicht wagen einzubrechen. Hier war sie sicher. Die Chefin mit ihren roten Haaren war eine Kämpferin. »Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht …« Hoffentlich kam Hannes bald. Sie wollte endlich nach Hause.
Gruppeninspektor Theo Schimmel betrachtete die bereits genähte Platzwunde über der rechten Augenbraue seiner
Tochter. Er strich ihr mit dem Daumen über die Hand. »Susi … ich … Hauptsache, dir ist nichts passiert.«
Susi sah ihn an und quälte sich ein Lächeln ab, dass es Schimmel das Herz zerriss. Seine Kleine. Von einem Gangster überfallen und ausgeraubt. Und er als Polizist hatte sie nicht beschützen können.
Tränen stiegen Susi in die Augen. Sie legte die freie Hand, wohl unbewusst, auf ihren Bauch.
Schimmel fühlte sich noch unzulänglicher. Er küsste die Hand seiner Tochter, ihre Stirn. »Und natürlich dem Baby. Es ist gut, dass du dich nicht gewehrt hast.«
Susi stöhnte. »Ja, wie eine Kuh vor der Schlachtung!« Sie blitzte ihn an. »Papa … ich … hätte ihm am liebsten in die Eier getreten … entschuldige … aber ich hab nicht gewusst wie. Das ist zum Kotzen, verstehst du? Da kommt so ein Arschloch daher, klaut mir alles, ausgerechnet zu Weihnachten, und ich … halt ihm vor lauter Angst quasi auch noch die Handtasche hin. Das ist so … zum Kotzen.«
Erniedrigend, meinte sie wohl. Seine Brust wurde noch enger. Nicht genug, dass seine Tochter, sein siebzehnjähriges Mädchen, Mutter wurde und vor der Zeit erwachsen werden musste, jetzt machte sie auch noch böse Erfahrungen, die sogar Erwachsene überfordern konnten. Diese beschissenen Diebe, die zu den Feiertagen anreisten … Bald waren es mehr als die gewöhnlichen Touristen.
Schimmel sprang auf. Lief kreuz und quer durchs Zimmer. Vor dem Fenster blieb er stehen. Am liebsten wäre er nach draußen gegangen und hätte den Erstbesten, der ihn schief anschaute und nach Moldawier oder Kirgise aussah, rücksichtslos festgenommen und bis zum St.-Nimmerleinstag in der Zelle schmoren lassen. Dreinschlagen in diesen
Mief, die Grenzen dichtmachen … Er hörte sich an wie der beste Rechtsaußenpopulist. Dabei wollte er nie so werden wie manche seiner Kollegen.
Er sah seine Tochter an. Immer mehr ähnelte sie ihrer verstorbenen Mutter. In jedem ihrer Gesichtszüge sah er das Baby, die Fünfjährige, das große Schulmädchen, den schüchternen Teenager, die junge Mutter … Er liebte sie so sehr, dass er manchmal nach Luft ringen musste. Und diesen Dieb hätte er am liebsten umgebracht … Die Videos in der U-Bahn! Susi war doch in der Station Karlsplatz überfallen worden. Die Überwachungsvideos. Das war eine Spur. Vielleicht war der Mann öfters dort … oder bekannt in der Asylszene …
Susi umschlang sich mit den Armen, sie zitterte wie in einem Krampf. »Ich hab Angst, Papa. Ich … mag da gar nicht mehr … rausgehen. Ich …« Sie vergrub den Kopf zwischen den Knien.
»Es wird dir nicht noch einmal was passieren.«
»Und wenn doch? Ich muss auf das Baby aufpassen.«
Auf sein Enkelkind. Er musste sich Urlaub nehmen … aber wie lange, nein, das war Blödsinn … einen Bodyguard? Jetzt fing er an zu spinnen … aber sie musste doch irgendwie … »Ich weiß was.«
Susi reagierte nicht.
»Mäusezahn, ein Kollege von mir unterrichtet Selbstverteidigung. Er ist der Beste in der Stadt, das sag nicht ich, das sagen alle. Er ist zwar ständig ausgebucht, aber für uns macht er sicher eine Ausnahme. Hm? Er zeigt dir ganz genau, wie du einem Typen in die Eier treten kannst.«
Jetzt lächelte sie.
»Nicht, dass du das je brauchen wirst, es wird dich niemand
mehr überfallen, aber du weißt, dass du für den Fall der Fälle gerüstet
Weitere Kostenlose Bücher