Schneegeflüster
Aber so schlimm war es schon lange nicht mehr. Eigentlich nicht mehr seit ihrer Einlieferung. Irgendwas muss heute beim Freigang passiert sein. Und ich dachte mir, Sie wollen wenigstens wissen, wenn etwas …«
»Sie hatte Freigang?« Hannes schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich hab den Professor doch gebeten, wenigstens einen Pfleger mitzuschicken. Verdammte Scheiße! Wie kann er …?«
»Sie ist nicht orientierungslos. Keine Selbst-, keine Fremdgefährdung. Sie findet sich …«
»Nicht orientierungslos? Nicht orientierungslos ? Wie nennt man eine Frau denn dann, die ihren eigenen Mann nicht mehr kennt und glaubt, dass ihr Kind auf Jungscharlager ist? Ein Kind, das nie existiert hat?«
Stiegel sah ihn an. »Es hat existiert, bis zum fünften Monat. Und die anderen beiden auch, wenn auch nur sechs Wochen lang.«
»Betreiben Sie jetzt bitte keine Haarspalterei.«
»Für eine Frau ist das etwas anderes als für einen Mann. Sie hat mit allen drei Kindern gelebt.«
Hannes sprang auf, ging ans andere Ende des Schwesternzimmers. »Ja, ja, ich weiß, ich bin unsensibel und ich werde das nie verstehen. Weil, ich bin ja nur ein Mann und bau meine Beziehung zum Kind erst auf, wenn ich es aus dem Bauch kriechen sehe. Blablabla. Bei jedem Gespräch hier, in jeder Selbsthilfegruppe derselbe Schmarrn.« Er lehnte den Kopf gegen den Arzneischrank. »Ich hab mich auf die Kinder genauso gefreut wie Erika.«
Das Zischen der flackernden Neonröhre war durch die offene Tür zu hören. Es klang, als würden Schwärme von Motten verglühen.
Das Gewand der Pflegerin raschelte. »Lassen wir das. Wollen wir es versuchen?«
»Wollen ist das falsche Wort.« Er würde es versuchen, weil er nicht anders konnte. Hören oder sehen wollte er seine Frau nicht. Es brachte ihn jedes Mal ein Stückchen mehr um, wenn sie ihn wieder nicht erkannte.
Und er wollte selbst entscheiden, ob er sterben wollte oder nicht.
Er drehte sich um und folgte der Pflegerin.
Gruppeninspektor Robert Riedl musterte aus dem Augenwinkel die Frau neben sich. Eine brandneue Kollegin aus der Mordkommission. Lisbeth Kramer. Vor einer Stunde war sie lachend in Theos und sein Büro gestürmt. Mit blendend weißen Zähnen, durch den linken hervorstehenden Eckzahn auf charmante Weise unsymmetrisch. Mit grünen Augen, die wie Moos leuchteten. Wilden braunen Locken, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren. Theo hatte sofort den Charmeur und Gentleman gegeben, Riedl selbst hatte sich abgewandt, weil er auf einmal zitterte.
Das war ihm bei einer Frau noch nie passiert. Manchmal war er spontan erregt gewesen, manchmal hatte er schlagartig Sympathie empfunden, doch noch nie hatte er die Kontrolle über seinen Körper verloren. Was war los mit ihm? Hatte ihn die allgemeine vorweihnachtliche Gefühlsduselei angesteckt? Dabei wusste er doch, Frauen waren nichts für ihn, und er war nichts für die Frauen. Zumindest nicht in einer festen Beziehung. Da gab es nur Probleme. Die ständig beredet werden mussten. Immer nur reden und nochmals reden. Zeitverschwendung. Und außerdem hatten sie ihn alle zu irre gefunden. Dabei war er nur ein Genussmensch. In den letzten Jahren war es ihm wunderbar gelungen, sich nicht mehr zu verlieben. Alles nur eine Frage des Trainings.
Und jetzt stand sie neben ihm, mit einer roten Nase, die ihr in der Kälte ständig lief, sodass sie sich alle paar Minuten schnäuzen musste. Er hätte die Nase gern geküsst. Sie mit seinen Lippen gestreichelt und gesund gemacht. Er wollte …
Stattdessen bezwang er das Zittern seiner Hände und drückte auf den Klingelknopf des Dompfarrers. Sie wandte
sich ihm zu. »Ich glaub ja wie Sie, dass das Raub mit Todesfolge war. Oder sagen wir vielmehr ein Diebstahl, der blöd gelaufen ist.« Sie lächelte. Er war wie paralysiert. »Keine Waffen, keine Bedrohung. Aber Sie wissen ja, wie das ist, die Kirche …«
»Ich weiß, ich weiß, Weisung von …«
Die Tür ging auf. Ein Ordensbruder kontrollierte ihre Dienstmarken und führte sie ins Büro des Dompfarrers. Gänzlich unhöflich betrat Riedl vor seiner Kollegin den Raum, weil er Angst hatte, dass seine Beine bei ihrem Anblick versagen würden. Sie musste ihn für einen ungehobelten Misanthropen halten. Bei der Vorstellungsrunde deutete er auf sie, sah sie aber nicht an. Dann stand er vor dem Problem, sich entweder Lisbeth Kramer gegenüber oder neben sie zu setzen. Er sank auf den Stuhl neben ihr und wurde in ihre Duftwolke eingehüllt, wobei er
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