Schneegeflüster
und allein. Wahrscheinlich sah er deshalb in jeder Frau seine eigene. Wie diese Federer aus dem Flyer. Schimmel zündete sich eine neue Zigarette an. Er hatte seinen Kollegen Franz sogar vorsichtig nach ihr ausgefragt, doch sie war verheiratet. Alle guten Frauen waren verheiratet. Und er
allein mit einer schwangeren Tochter, um die er Todesangst ausstand. Er musste etwas unternehmen.
Schimmel sah auf die Uhr. Kurz vor fünf. Die U-Bahnen fuhren bald wieder. Arbeitsbeginn für die Gauner. Er könnte sich in die Karlsplatz-Passage stellen und die Augen offen halten. Nein, es war nicht wahrscheinlich, dass der Blondgefärbte nochmals am selben Ort zuschlug. Und dennoch … Er schrieb Susi einen Zettel, dass er Frühstück einkaufen sei. Alles war besser als sinnloses Sinnieren.
Gruppeninspektor Robert Riedl drückte Lisbeth Kramer eng an sich. In vollkommenem Gleichschritt marschierten sie an der Oper vorbei. Billard und einige Tequilas, Schlittern am zugefrorenen Stadtparkteich, Kugeln und Küssen auf der steinharten Wiese, Jamsession in einer Blueskneipe, Diskussion über die Rettung der Welt mit wildfremden Menschen, Darts in einem Kellerlokal, gieriges Betatschen auf dem Gang zur Toilette, wobei sie die blöden Bemerkungen mit noch wilderen Küssen quittiert hatten, Tischfußballturnier, Starren ins pechschwarze Wasser des Donaukanals, Spaziergang durch das Wien zwischen Nacht und Morgen … Er wollte weder zu Lisbeth noch zu sich nach Hause. Er wollte, dass diese Nacht nie endete.
Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. »Wir sollten heimgehen. Duschen. Frühstücken. Im Büro warten sicher drei Millionen Hinweise zum Phantombild.«
»Wie wäre es mit Ham and Eggs in der Gräfin ? Oder sonstwo am Naschmarkt?« Bitte! Es musste in die Verlängerung gehen.
Sie lächelte ihn an. »Gute Idee. Aber lass uns durch die Passage gehen. Mir friert’s schon den Arsch ab.«
Zu den Karlsplatz-Junkies. Aber mit Lisbeth würde er überall hingehen. Sie tauchten ab in den Bauch der Stadt, der ausnahmsweise einmal nicht stank, sondern nach Zitrone roch. Es standen überall Schilder mit dem Hinweis auf Rutschgefahr. Und es waren erstaunlich viele Menschen unterwegs, manche mit Reisetaschen, manche mit sauren Mienen. Ja, klar, der Heilige Abend war ja im Prinzip ein normaler Arbeitstag. Und die üblichen Verdächtigen aus der Drogenszene schlichen auch schon wieder herum.
Sie erreichten die Stelle, wo er Lisbeth vor dem Dieb gerettet hatte, sahen einander zeitgleich an. Lächelten. Küssten sich. Sehr sanft. Er drückte ihren Kopf an seine Schulter und … sah einen Mann aus dem Café kommen.
»Das gibt’s nicht.« Er löste sich von Lisbeth. Sie folgte seinem Blick, erkannte den Mann ebenfalls und fasste Riedls Hand. Sein Herz verhaspelte sich im Rhythmus.
Sie winkte. »Kollege Schimmel!«
Theo erkannte sie nun auch. Nur zögerlich hob er die Hand, anscheinend war ihm die Begegnung genauso peinlich wie Riedl. Es war ungewöhnlich, dass er hier … um diese Uhrzeit … Er war doch kein Nachtvogel … seine Tochter daheim …
»Kollege Schimmel, na, haben wir schon die senile Bettflucht?« Lisbeth strahlte ihn an. Riedls Herz vergaloppierte sich schon wieder, diesmal aus Eifersucht. Doch sein lieber Kollege lächelte nicht zurück. Er streifte mit seinem Blick auch nur wie nebenbei die verschränkten Hände von Riedl und Lisbeth.
»Ich bin … ähm …« Theo sah sich um. Knickte den Rand des Plastikdeckels seines Kaffeebechers auf und wieder zu. »Susi ist überfallen worden. Hier. Also eigentlich nur ein
Handtaschendieb, aber im Gerangel hat er sie … Sie hat da …«, er deutete auf die rechte Braue, »… eine Platzwunde. Und …«, sein Gesicht verzerrte sich, »ich könnt ihn umbringen. Ich mein, sie ist schwanger. Es hätte Gott weiß was passieren können.«
Lisbeth legte ihm die Hand auf den Arm. »Das tut mir so leid für Sie.« Ihre Stimme zitterte. Sie dachte sicher an ihren eigenen Überfall.
»Und jetzt wartest du da auf ihn.«
Theo sah Riedl an und lachte auf. Es klang wie Weinen. »Lächerlich. Ich weiß. Ich werd jetzt heimgehen.«
»Hat sie ihn beschreiben können? Gibt’s eine Anzeige?«
Theo nickte. »Blond gefärbte Haare. Kapuze. Mehr gibt’s nicht.«
Riedl und Lisbeth sahen einander an. Er hätte dem Typen doch nachrennen sollen, dann hätte Theos Seele jetzt ihre Ruhe.
Sie verhedderte sich mit dem Absatz in einem Papierfetzen, der aus dem Eingang der Passage herausgeweht wurde.
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