Schneegeflüster
etwas. Zuerst dachte ich, es handelte sich um ein Flugzeug, doch dazu bewegte es sich zu schnell und in zu steilem Winkel. Eine Sternschnuppe, tatsächlich! Ein Zeichen von oben, bestimmt, eine letzte goldene Chance. Mit wilder Entschlossenheit funkte mein Herz SOS ins Universum. Doch weit und breit keine Fee. Dafür …
»Hast du dir etwas gewünscht?«
Ich drehte mich um. Moritz stand in der Balkontür und verfolgte den Himmelskörper mit den Augen, bis er verglüht war.
»Ich nämlich schon.«
Entschlossen trat er auf mich zu, nahm mein Gesicht in beide Hände und küsste mich. Ich hatte solche romantischen Szenarien immer für eine Erfindung der Dichter gehalten,
aber hier war ich, Åsa Glück, an Heiligabend mit einem wunderbaren Mann im Mondschein auf dem Balkon einer Luxussuite. Wie wundervoll! Wie märchenhaft! Wie schrecklich! Ich durfte das nicht zulassen. Wenn mir schon morgen früh nichts mehr bleiben sollte, dann war es auch besser, nicht zu viel zu verlieren zu haben.
Ich stieß den verblüfften Moritz weg, schälte mich bereits auf dem Weg in die Suite aus Christkindkleid und Christkindflügeln, schlüpfte hastig in Jeans, Poloshirt und Turnschuhe, griff nach meiner Handtasche und lief ohne einen Blick zurück auf den Flur. Dann eilte ich, da der Fahrstuhl nicht da war, die Treppe hinunter. Hinter mir hörte ich Moritz’ Rufe, doch ich blieb nicht stehen, sondern beeilte mich nur umso mehr. Ich wohnte im vierten Stock ohne Lift. Für dieses tägliche Treppentraining war ich nun enorm dankbar, denn ich hatte bereits einen gewaltigen Vorsprung, als ich aus dem Hotel auf die Straße stürmte und in das erste wartende Taxi sprang.
»Vierter Bezirk«, keuchte ich, »schnell!«
Der Fahrer glotzte mich an. Mir fiel ein, dass immer noch ein windschiefer Heiligenschein irgendwo in meinen Locken hing.
»Ich sagte schnell !«
Der Fahrer startete den Wagen, gerade als Moritz durch den Haupteingang gerannt kam, mich entdeckte und auf das Taxi zuhielt. Seine Finger hinterließen Streifen an der Seitenscheibe. Ich starrte sie an, bis sie im Tränenschleier verschwammen, während das Taxi nach rechts auf den Schwarzenbergplatz abbog.
Was für eine Scheiße!
Es war nicht das Radio, das mich weckte, sondern das Telefon. Ich besaß noch einen klassischen Festnetzanschluss, da man diesen im Paket mit Handy und Internet bekommen konnte und meine Eltern Anrufe auf mein Mobiltelefon strikt verweigerten. Es klingelte achtmal, dann schaltete sich der Anrufbeantworter ein.
»Hallo, Küken«, ertönte die bestens gelaunte Stimme meiner Mutter, »ich hoffe, du bist gut nach Hause gekommen. Es sind noch genügend Reste da, wenn du Hering möchtest, komm einfach später vorbei, dann kannst du auch Papa mit der Heckenschere helfen. Findest du nicht auch, dass die Mädchen nach Oma und Opa Hildesson kommen? Du solltest dir auch langsam mal einen netten Mann suchen, dann feiern wir womöglich nächste Weihnachten schon zu neunt! Ruf mich an, Kind!«
Ich stöhnte, drehte mich auf die Seite und las die Ziffern auf meinem Wecker. Schon zehn vorbei. Welcher Tag überhaupt? Der fünfundzwanzigste. Der fünfundzwanzigste Dezember!
Mit schrecklich und faltenfördernd gerunzelter Stirn setzte ich mich langsam auf. Das war doch nicht möglich! Meine letzte Erinnerung war die an die Verlagsweihnachtsfeier. Eine seltsame Figur im Engelskostüm hatte mir einen Wunsch freigestellt. Zu Hause hatte ich noch vor dem Schlafengehen das Wunschwellenprinzip gegoogelt und herausgefunden, dass es so etwas tatsächlich gab. Doch bis zu diesem Moment hätte ich es nicht für real gehalten. Aber da war nichts. Kein Fünkchen Erinnerung an den Weihnachtstag. Als hätte er nie stattgefunden. Aber meine Mutter schien davon nichts bemerkt zu haben. Offensichtlich war Weihnachten wie jedes Jahr in grenzenloser Monotonie
über die Bühne gegangen. Heringe zum Abendessen, geschenkte Heckenscheren, streitende Kinder. Nur in meinem Hirn war nichts davon hängen geblieben. Toll!
Fröhlich machte ich einige Yoga-Übungen und beschloss, gleich nachher meine Geschichte in diesem Wunschforum einzutragen. So einen originellen Wunsch hatte schließlich nicht jeder zu bieten.
»But the very next day, you gave it away. This year, to save me from tears …«
Der Radiowecker hatte sich eingeschaltet, und der Wham-Song, den scheinbar irgendein idiotischer DJ noch nicht ausreichend zu Tode gespielt hatte, dröhnte mir in den Ohren.
»I’ll give it to
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