Schneegeflüster
vor dem Bühnenausgang pressten die schlecht getarnten Polizisten ihn gegen die Wand.
»Sie sind verhaftet.«
»Das können Sie nicht.« Heinrich bedauerte, dass er gezögert hatte, seinen Nebenbuhler ins Jenseits zu befördern, als er die Gelegenheit dazu hatte. Er deutete mit dem Kinn
auf seine Brust. »In der Innentasche finden Sie meinen Diplomatenpass.« Der Anblick von Jérômes geschwollener Wange tat ihm wohl.
»Wir werden Sie ausweisen. Noch heute.« Der Franzose kniff die Augen zusammen. »Glauben Sie etwa, dass Sie Ihr Ziel erreicht haben?«
Unter dem vorgeblichen Spott in seiner Stimme hörte Heinrich ein leises Zittern. Sie konnten vor den beiden Polizisten nicht offen sprechen. Heinrich hätte selbst alles dafür gegeben, Irina in Sicherheit zu wissen. »Wer weiß?«
Der Franzose nagte mit den Zähnen an seiner Unterlippe, als verstünde er, dass Heinrich Zeit schinden wollte. Für Irina.
Sie hörten jemanden im Gang mit gebrochener Stimme flüstern. Die alte Garderobiere näherte sich in leicht gebeugter Haltung. Ein graues Tuch verbarg ihr Gesicht und dämpfte ihr Schluchzen. »Madame? Wo ist Madame?«, sagte sie immer wieder.
»Wir wissen es nicht«, sagte der Franzose und drückte Heinrich die Faust gegen die Gurgel. »Sie werden mir dafür noch persönlich Rechenschaft ablegen. Davor kann Sie kein Diplomatenpass schützen.«
Die Garderobiere hielt inne, schaute sogar in den Winkel hinter der Pförtnerloge. Mit einem letzten Aufschluchzen öffnete sie den Bühnenausgang.
Heinrich fühlte, wie der Arm an seiner Kehle erstarrte. Dann sah er es auch. Unter dem Saum des grauen Garderobieren-Kleides spitzte ein weißer Lederschuh hervor.
»Lasst sie passieren. Sie ist nur die Garderobiere.« Der Franzose nickte seinen Männern an der Tür zu. »Und nun zu Ihnen!«, sagte er böse.
Ein wenig zu böse. Heinrich tat ihm den Gefallen und simulierte Widerstand, um die Polizisten abzulenken. »Lass mich endlich los, du Mistkerl.«
Das Schimpfwort klang in Irinas Ohren wie eine frohe Botschaft, als sie in die kühle Nachtluft trat. Noch immer ahmte sie Marias Haltung nach. Und war ihrer Garderobiere von Herzen dankbar, die nun halbnackt im Souffleusenkasten ausharren würde, bis sich die ganze Aufregung im Moulin Rouge gelegt hatte. Irina hatte sie im Dunkel sofort gefunden, die Muschel war nur drei Schritt vom Bett auf der Bühne entfernt. Als die Maskerade mit Marias Perücke perfekt gewesen war, ging gerade das Licht wieder an.
Irina winkte ein Taxi heran. Einen Blick auf ihre beiden Männer wollte sie noch riskieren. Beide verdienten es. Dort im offenen Bühneneingang standen sie und stritten - nicht ganz echt.
Schon hielt ein Taxifahrer, dem Irina an den rassig nach hinten geölten Haaren ansah, dass er sich hier in Pigalle auskannte. Sie beugte sich durchs Fenster. »Zu Madame Mimi.« Die berühmte Puffmutter war ihr noch einen Gefallen schuldig, sie würde schon wissen, wie sie Irina unerkannt ins neutrale Amsterdam schaffen konnte. »Einen Moment noch, mein Süßer!« Irina drehte sich um: »Jérôme! Heinrich!«
Sie beendeten ihren kleinen Schaukampf sofort. Irina warf den grauen Umhang von sich. Im reinweißen Unterkleid stand sie auf der Straße. »Vergesst Eure Geschenke nicht. Die Billets stecken im Umschlag am Spiegel.« Irina winkte. Sie liebte wirklich beide, dessen war sie sich sicher. Und beide würden kommen, zur Neujahrsrevue nach Amsterdam. Nur nicht am gleichen Tag.
Sie warf ihnen Kusshände zu. Ihr Jérôme lächelte mit seinem lädierten Poetengesicht verträumt, und ihr Heinrich reckte wie ein siegreicher Held den Arm zum Gruß. »Fröhliche Weihnachten«, rief sie noch hinüber und sprang ins Taxi, wo der Chauffeur große Augen machte. »Mein Gott, die Lasarewa.«
»Richtig«, sagte sie lachend. »Aber nun, mein Engel, fahr wie der Teufel!«
REBECCA FISCHER
Ein Geschenk des Himmels
»Ich besorge die Wildpreiselbeeren, das Baguette und den Champagner«, informiere ich meine Freundin Anne, während ich mit der einen Hand den Telefonhörer ans Ohr halte und mit der anderen die Tannennadeln auf dem Küchentisch zusammenfege.
Am 24. Dezember ist so ein Adventsstrauß längst ausgetrocknet.
»Dann bin ich also um acht bei dir«, sage ich zum Abschied, nachdem ich Anne zuvor glaubhaft versichert habe, dass Weihnachten ohne Männer und Familie auch sehr schön sein kann.
Um vierzehn Uhr schließen die Geschäfte, also muss ich mich beeilen. Erst einkaufen, dann auf
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