Schneegeflüster
hörte, öffnete Janis eine Flasche Champagner und später zum Huhn einen guten Rotwein. Laura machte sich schön. Zu Weihnachten trug sie immer das kirschrote Kleid. Vor dem Spiegel legte sie die Kette von Wolfgang an und lächelte sich dabei so zufrieden zu, wie es nur Frauen können, die ein süßes Geheimnis haben.
LISA KUPPLER
Der Adventskalender der guten Taten
Zwei Engel schwebten über dem Weihnachtsmann, der mit einem schweren Sack auf dem Rücken durch eine verschneite Landschaft stapfte. Das Silberpapier der kurzen Engelsflügel blitzte auf, die dunklen Tannen am Horizont glitzerten eisig. Im Licht der Hotelrezeption schillerte der in Öl gemalte Schnee bläulich. Wie auf einer altmodischen Anschlagtafel befanden sich unterhalb des Weihnachtsmanns vierundzwanzig Leisten, für jeden Adventstag eine, wo Buchstabenkärtchen aufgesteckt werden konnten. Schneeflocken, bunt verpackte Geschenke, Tannenzweige, Äpfel und leuchtendrote Kerzen schmückten sie, und die Adventssonntage waren mit goldenen Sternen gekennzeichnet. Doch heute, am ersten Dezember, waren die Zeilen noch leer. In diesem Jahr war es Sarahs Aufgabe, sie in den nächsten Wochen mit vierundzwanzig guten Taten zu füllen, wie es seit Jahrzehnten Tradition im Hotel Steiner war.
Sarah rückte den schweren vergoldeten Holzrahmen des Kalenders zurecht, den die Handwerker gerade an seinen
angestammten Platz neben dem Hoteleingang gehängt hatten. Der altertümliche Adventskalender gehörte zur weihnachtlichen Deko des Hotels, ebenso wie der fünf Meter hohe Christbaum zwischen den beiden Liften und die nach Wald und Wachs duftenden Kränze, die im ganzen Haus verteilt waren. Jedes Jahr verspürte Sarah ein warmes Gefühl, wenn sie zum ersten Mal in die weihnachtliche Lobby trat.
Die Hoteltüren öffneten sich, und ein Mann im dunklen Anzug trat ein. Er trug keinen Mantel, hatte keinen Koffer und nicht einmal eine Reisetasche bei sich. Ein Hotelgast. Ein kurzer Blick in sein blasses Gesicht überzeugte Sarah, dass sie ihn noch nie gesehen hatte. Seit vier Jahren war sie als Direktionsassistentin im Hotel angestellt, doch sie arbeitete selten in der Abendschicht. Der Mann musste einer von den Hotelgästen sein, die sich tagsüber nicht blicken ließen. Sie nickte ihm freundlich zu, aber er schien sie nicht zu bemerken. Eine Wolke eisiger Luft folgte ihm. Unwillkürlich zog Sarah ihr wollenes Schultertuch enger um sich. Draußen war es dunkel, vor den gläsernen Türflügeln wirbelten weißen Flocken. Schnee schon Anfang Dezember. Die Chancen für weiße Weihnachten standen gut, hatte sie am Morgen im Radio gehört. Der Mann ging am Aufzug vorbei und stieg die breite Hoteltreppe hinauf.
Sein federnder, energischer Gang erinnerte Sarah an Max. Dabei war der fremde Hotelgast schlaksig und hager, während Max seine Freizeit im Fitnessstudio verbrachte. Max Corentz, der umschwärmte PR-Manager, groß, gut gekleidet, mit blonden Locken, im perfekten Kontrast zu Sarahs dunkelbraunem Haar. Lass dich nie auf eine Beziehung am Arbeitsplatz ein, hieß es immer unter den Kollegen,
doch Sarah und Max hatten bewiesen, dass sich Liebe und Arbeit durchaus miteinander vereinbaren ließen. Anderthalb Jahre waren sie zusammen gewesen. Länger sogar, ein Jahr, acht Monate und … Sie hatte die Anzahl der Tage vergessen. Wahrscheinlich war das ein gutes Zeichen, allmählich kam sie über die Sache mit Max hinweg. Letztes Jahr hatten sie das Aufhängen des Adventskalenders, der immer Max’ Aufgabe gewesen war, noch gemeinsam beaufsichtigt. Doch Max hatte seinen Job im Steiner gekündigt, um mit seiner Neuen ein Hotel auf Mallorca zu übernehmen. Sarah hatte sie nie gesehen, die Neue, aber blond sollte sie sein und na, das passte dann ja wohl.
»Ah, er hängt schon.«
Sarah fuhr herum. Sie hatte ihren Chef gar nicht kommen hören, obwohl Victor Steiner wie gewöhnlich italienische Schuhe trug, die auf dem polierten Steinboden der Lobby laut klackten. In den letzten Monaten passierte es ihr immer häufiger, dass sie völlig in Gedanken versunken war und ihre Umgebung nicht wahrnahm. Ob der Tod wohl auch so kam, auf klackenden schwarzen Schuhen, denen die Lebenden unwillkürlich auswichen? Und nur sie hörte die Schritte nicht mehr und blieb stehen?
Steiner musste etwas bemerkt haben, denn er legte ihr die Hand auf den Arm. »Ich wollte Sie nicht erschrecken, Sarah.« Die hellen Augen in seinem faltigen Gesicht blickten besorgt.
»Nein, nein, ich musste nur gerade
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