Schneegeflüster
einen Gutschein für ein Wochenende im Hotel. Oder einen Geschenkkorb aus den Hotelgeschäften. Oder eines der altmodischen schwarzen Hoteltaxis als Mietwagen fürs Wochenende, samt Chauffeur in Hotellivree und gefülltem Picknickkorb. Steiners Sekretärin hatte jedes Jahr neue Ideen.
Der Junge wurde von seiner Mutter gerufen, die Gäste konnten auf ihre Zimmer. Frau Yokomoto lächelte, als der Junge auf sie zurannte und dabei begeistert etwas auf Japanisch rief.
Jenny Fiedler blieb erwartungsvoll vor dem Adventskalender stehen. Sie hatte die Yokomotos durch die verwinkelten Straßen vom Platz zum Hotel begleitet, sie hatte dafür
gesorgt, dass die Gäste nicht auf den letzten dreihundert Metern im Schneetreiben verloren gingen. Eine gute Tat, die belohnt werden wollte.
»Frau Fiedler«, sagte Sarah und hatte zum ersten Mal seit Monaten wieder Spaß an ihrem Job, »was halten Sie davon, auf Kosten des Hauses Steiner ein Wochenende in der Familiensuite zu verbringen?«
Im Winter, wenn die Dämmerung früher hereinbrach und es morgens später hell wurde, waren Carls Tage länger. Die Kälte entsprach seiner Natur, und er brauchte weniger Schlaf. War es draußen besonders düster, wagte er sich sogar schon am Nachmittag aus seinem Zimmer, dessen einziges Fenster auf die backsteinerne Brandmauer des Gebäudes gegenüber hinausging. Dann ließ er sich mehr Zeit für seine langen Spaziergänge durch die Straßen rund um das Hotel, mehr Zeit für das Auskundschaften von potenziellen Opfern . Carl nannte sie ungern so, und er achtete darauf, nur die Todkranken und Lebensmüden auszuwählen. Doch mit streunenden Hunden und Katzen konnte er sich nur wenige Wochen über Wasser halten, und auf Ratten hatte er zum Glück noch nie zurückgreifen müssen.
Er war heute schon unterwegs gewesen. Ein paar Häuser weiter, im Eingang des Feinkostgeschäfts vom alten Piersching, hatte sich eine Obdachlose niedergelassen. In drei Schichten stinkender Klamotten und einen löchrigen Schlafsack gewickelt, schlief sie vor der Tür des Geschäfts. Begeistert war Piersching sicher nicht, aber anscheinend hatte er dem Wachschutz keine Anweisung gegeben, die Frau wegzujagen. Ein paar geschickt gestellte Fragen, ein kurzer Blick in ihre Augen, und Carl wusste ihren Namen.
Marlies hieß sie und war erst kürzlich aus der Psychiatrie entlassen worden. Keine Kinder, nicht einmal ein Hund. Ein ideales Opfer, wäre da nicht der entschlossene Ausdruck um ihren Mund und die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich im Eingang von Pierschings Feinkost niedergelassen hatte. Carl war unverrichteter Dinge auf sein Zimmer zurückgekehrt.
Doch er hielt es nicht aus, noch eine weitere Nacht auf dem breiten Bett zu verbringen, unter dem er seinen Sarg versteckte. Unter der Matratze lag Erde, die er vor hundertsiebzig Jahren aus Siebenbürgen mitgebracht hatte. Der Heimatboden gab ihm ein Gefühl von Sicherheit, aber er stillte den Hunger nicht.
Damals nach dem Untergang der Byzantin , des französischen Passagierdampfers auf dem Weg nach Konstantinopel, war Carl zum ersten Mal ins Hotel Steiner gekommen. Er war dabei gewesen, als Victors Großvater den Kalender hatte schreinern und bemalen lassen, nach den Skizzen seiner jungen Frau, die wenige Monate später im Kindbett gestorben war. Das Neugeborene hatte überlebt, dafür hatte Carl gesorgt, bevor er der todgeweihten Antonia Steiner einen leichten, einen schönen Tod gebracht hatte. Seitdem wohnte er in Zimmer 349 des Hotels, und die Steiners wussten Bescheid, auch wenn sie nie ein Wort darüber verloren und ihn wie einen normalen Dauergast behandelten.
Er sah hinüber zu Victor Steiner, der den Adventskalender betrachtete. Neben dem Hoteldirektor stand eine Frau, die Carl noch nie gesehen hatte. Sie war schlank, dunkles glattes Haar fiel ihr bis in den Nacken. Das schwarze Kostüm betonte ihre Größe, ihre Waden unter den Feinstrumpfhosen waren schmal, aber kräftig. Carl konnte sich nicht
daran erinnern, wann er das letzte Mal zuerst auf die Beine einer Frau anstatt auf ihre Kehle geschaut hatte.
Sie musste zum Personal gehören, denn sie hatte das Aufhängen des Kalenders beaufsichtigt. Wahrscheinlich eine aus der Tagschicht, die dazu verdonnert worden war, Victors vorweihnachtliche Marotte zu betreuen. Die beiden traten an den Empfangstresen. Die Frau holte die Metallschachtel hervor, in der die abgegriffenen Buchstabenkärtchen lagen, mit denen die guten Taten auf dem Kalender vermerkt
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