Schneegeflüster
…« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, der Kalender hängt.«
Ihr Chef trat einen Schritt zurück und überprüfte, ob man den Weihnachtsmann samt den Engeln auch gut erkennen konnte.
Wieder gingen die Hoteltüren auf, und die eisige Luft brachte neue Gäste herein. Fast hätte Sarah die junge Verkäuferin vom Supermarkt vorne am Platz nicht erkannt, so unpassend wirkte ihr leuchtend gelber Kittel in der gedämpften Atmosphäre des Hotels. Ein japanisches Paar mit einem vielleicht fünfjährigen Jungen und etlichen Koffern und Taschen drängte sich hinter ihr durch die Tür. Familie Yokomoto aus Kyoto, erinnerte sich Sarah an die Buchung. Sie hätten schon vor Stunden im Hotel ankommen sollen. Schneeflocken schmolzen auf dem modischen, aber viel zu dünnen Mantel der erschöpft wirkenden Frau. Ihr Mann rieb sich die Stirn, als kämpfe er mit Kopfschmerzen. Nur der Junge, eine Baseballkappe auf dem Kopf und einen halb gegessenen Schokoladen-Nikolaus zwischen den dicken Handschuhen, blickte sich mit großen Augen in der Hotellobby um.
»Also, ich hoff’, die sind nun richtig hier. Der Taxifahrer hat sie vorm falschen Hotel abgesetzt. Und ich muss gleich zurück in’n Laden.«
Sarah kannte die Verkäuferin von zahllosen Einkäufen. Sie wirkte immer etwas gehetzt, die gefärbten Haare waren meistens flüchtig hochgesteckt. Zwei Kinder und kein Mann, hatte Sarah einmal an der Kasse aufgeschnappt.
»Das ist sehr nett von Ihnen, dass Sie die Yokomotos hergebracht haben.« Im Kittel der Verkäuferin war ein Name eingestickt, den Sarah zu entziffern versuchte. Doch es war nur der Schriftzug der Supermarkt-Kette.
Arlo, der schottische Page, kam schon herbeigeeilt und nahm das Gepäck der Yokomotos in Empfang. Steiner bedankte sich ebenfalls bei der Verkäuferin und ging dann auf die Gäste zu. Er begrüßte sie in einem Japanisch, das weit
über die Floskeln hinausging, die Sarah in der Ausbildung gelernt hatte.
Die Verkäuferin hatte wohl Sarahs vergebliche Suche nach einem Namensschild bemerkt. »Jenny Fiedler«, stellte sie sich vor. »Na, die sin’ in’n Laden reingestolpert, und sie könn’n ja kein Deutsch. War grad nich’ viel los, da hab ich der Frau’nen Tee gebracht. Ist eigentlich fürs Personal, Kassiererinnen, Wachschutz und so. Aber der wird eh kalt, wenn’n keiner trinkt. Und der Bub war ganz hin und weg von den Schoko-Weihnachtsmännern, und nu ist ja bald Nikolaus …« Sie zuckte mit den Schultern.
Steiner war ins Gespräch mit Frau Yokomoto vertieft, während ihr Mann bei Pauline an der Rezeption stand und eincheckte. Die Koffer und Reisetaschen hatte Arlo wohl schon auf die Zimmer geschafft. Nur der mantellose Hotelgast von vorhin lehnte am Aufgang der Treppe und blickte zu ihnen herüber.
»Santa Claus!«, hörte Sarah eine helle Kinderstimme hinter sich. Der Junge starrte auf den Adventskalender. Er legte die Baseballmütze samt den Trümmern des Schokoladen-Nikolauses auf den Boden und stellte sich auf die Zehenspitzen. Wie Hunderte von Kindern jedes Jahr streckte er die Hand aus und berührte die Lebkuchenmänner, die am unteren Rand des Adventskalenders in Reih und Glied standen.
Jenny Fiedler lachte. »Kein Advent ohne den Kalender vom Hotel Steiner«, sagte sie.
Mit einem Mal begriff Sarah, warum die Verkäuferin an einem verkaufsoffenen Donnerstagabend, an dem der Supermarkt voller Kunden war, den Laden verlassen hatte. Wahrscheinlich hatte Jenny Fiedler eine Praktikantin an die
Kasse gesetzt, damit sie persönlich die Gäste ins Hotel begleiten konnte.
Sarah fing Steiners Blick auf. Er nickte unauffällig zu Jenny hin, dann wandte er sich wieder Frau Yokomoto zu. Und damit hatte Sarah ihre »gute Tat« für den ersten Dezember, die erste von vierundzwanzig. Sie hatte es sich schwieriger vorgestellt, ihre Guten Samariter zu finden. Aber natürlich wussten die Anwohner und Geschäftsleute aus den umliegenden Straßen genau Bescheid über den Adventskalender, dieses Relikt aus einer vergangenen Zeit. Sein ganzes Leben lang habe der Kalender jedes Weihnachten in der Hotellobby gehangen, hatte Steiner ihr erzählt. Der Hotelier ließ es sich einiges kosten, während der Adventszeit Freundlichkeiten zu belohnen, die über das übliche Maß der Höflichkeit hinausgingen, für die jedoch eigentlich niemand eine Belohnung erwarten konnte. Nur in der Vorweihnachtszeit und nur im Hotel Steiner bekam man für solche guten Taten ein romantisches Dinner im Vier-Sterne-Restaurant oder
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