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Schneegeflüster

Titel: Schneegeflüster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind , Rebecca Fischer , Steffi von Wolff , Andrea Vanoni
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manchmal packten, trotz der starken Medikamente, die sie jeden Tag einnahm. Vielleicht ahnte Carl etwas von der Krankheit, die sie so sorgsam verheimlichte. Jeden Abend erkundigte er sich nach ihrer Erkältung und fragte, ob sie abgenommen habe.
    Wollte sie mit Carl schlafen? Die Frage stellte Sarah sich später, wenn sie wach im Bett lag. Sie dachte an seine kühlen
Hände und den hungrigen Zug um seinen Mund. Doch ihr blieben nur noch vierzehn Tage, und eine Romanze gehörte nicht zu ihrem Plan. Schon gar nicht mit einem Mann wie Carl, der wohl mehr als nur eine Nacht mit ihr verbringen wollte. Im weichen dunklen Winterlicht, das durch den Vorhang in ihr Schlafzimmer fiel, stellte sie sich vor, wie Carls Hände über ihre nackte Haut strichen, wie er sie mit seinen schmalen Lippen küsste. Ja, sie wollte ihn.
     
    Frischer Schnee bedeckte den Asphalt, weder Reifenspuren noch die Abdrücke von Schuhen oder Hundepfoten waren in dem jungfräulichen Weiß zu sehen. Niemand außer Carl streifte in den Stunden nach Mitternacht durch die Straßen. Mit jedem Tag, der ohne eine richtige Mahlzeit verging, erschienen ihm die Ratten unten am Fluss hinter dem Hotel verlockender.
    Im fünften Stock des Gründerzeithauses, vor dem Carl stand, ging das Licht an. Er hatte einen Blick auf das Klingelschild geworfen, doch er wusste auch so, dass das Licht in Sarahs Wohnung war. Er hätte nicht so viel Zeit mit einer Sterblichen verbringen sollen. Doch zum ersten Mal seit Jahrzehnten weckte eine Frau wieder die menschliche Seite in ihm. Er war immer noch ein Mann, auch wenn der Blutdurst ihn dies meist vergessen ließ. Und nun war passiert, was hatte passieren müssen: Er konnte ihren Herzschlag in seiner Kehle spüren, er hatte den Duft von Aprikosen in der Nase, auch wenn er fünf Stockwerke weit von ihr entfernt war. Carl wusste kaum, wie er hierhergekommen war, doch nun stand er vor ihrem Haus - ein Fremdkörper in der stillen Nacht. Er musste vorsichtig sein, denn seine Schritte hinterließen im Schnee keine Spuren. Das Weiß leuchtete
heller als die trüben Straßenlampen. Käme jemand vorbei, würde er sofort sehen, dass Carl auf einer unberührten Schneedecke stand.
    Er schaute nach oben, und als wäre sein Blick bemerkt worden, ging in diesem Moment das Licht aus. Carl meinte, eine Bewegung am Fenster zu sehen, doch er war sich nicht sicher. Er drückte sich dichter an die Hauswand. Vorn an der Straßenecke lief ein Mensch durch die wirbelnden Flocken, wahrscheinlich ein Arbeiter auf dem Weg zur Frühschicht. Durch das Schneetreiben drang der Geruch von warmem Blut zu Carl, und ihm lief unwillkürlich das Wasser im Mund zusammen. Er machte ein paar Schritte in Richtung des eingemummten Mannes, als der Druck in seinen Kieferknochen ihn innehalten ließ. Er spürte seine ausgefahrenen Beißzähne. Doch der Mensch, der da durch den Schnee zur Arbeit hastete, war jung und hatte das Leben noch vor sich. Er war kein Opfer. Mit einem unterdrückten Stöhnen drehte Carl sich um. Bald würde er doch mit den Ratten vorliebnehmen müssen.
    Fast hätte er die Schritte auf der Treppe im Haus überhört. Doch ein Schlüsselbund klirrte, und bevor die Tür aufging, drückte sich Carl in den dunklen Eingang des Nachbarhauses.
    Es war Sarah, die im langen Wintermantel, einen schwarzen Wollschal um Hals und Kopf gewickelt, aus dem Haus trat. Sie wandte den Kopf leicht nach links, die Seite, auf der sie gut hörte. Einen Moment lang befürchtete Carl, sie hätte ihn bemerkt, doch dann stapfte sie im frischen Schnee über die Straße und lief rasch die Häuser entlang.
    Carl zwang sich, eine ganze Minute zu warten. Langsam zählte er bis sechzig. Für ein menschliches Auge wäre
Sarahs Gestalt im Dunkel bald nicht mehr auszumachen gewesen, doch Carl wusste genau, wo sie sich befand. Wie mit einem Nachtsichtgerät nahm er die pulsierende Wärme ihres Körpers vor den Gebäuden wahr. Sie bog um die Ecke, als er bei siebenundfünfzig war. Carl nahm die Witterung auf. Er wollte es nicht, doch es war ihr Blut, das ihn anzog, mehr noch als der Aprikosenduft. Morgen musste er ein Opfer finden, und wenn es Marlies war, die mal große Pläne für die Zukunft schmiedete und dann wieder jammerte, sie wolle zurück in die Anstalt. Morgen würde er eine Entscheidung treffen. Marlies oder die Ratten. Aber erst wollte er herausfinden, was Sarah mitten in der Nacht auf die Straße trieb.
    Kaum war er um die Ecke gebogen, sah er sie ein paar Häuser weiter vor

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