Schneegeflüster
einer Apotheke stehen. Er duckte sich in den Schatten und linste vorsichtig um die Ecke. Sarah hielt ihre Brieftasche in der Hand und reichte einen Geldschein durch die Öffnung in der Tür. Dort musste wohl ein Nachtschalter sein.
Er hörte Gemurmel, Sarah erhielt eine kleine Plastiktüte, die sie in ihre Handtasche stopfte, und verabschiedete sich. Es war an der Zeit zu verschwinden. Schon drehte sich Sarah weg von der Apotheke und wickelte sich den Schal fester um den Kopf. Carl brachte sich rasch hinter einem Gebüsch in Sicherheit. Er beobachtete, wie sie langsam zurück zu ihrer Wohnung stapfte. Opfer , sagten seine Instinkte so deutlich wie die Spur, die Sarah im Schnee hinterließ. Und obwohl für ihn jeder Mensch wie eine gute Mahlzeit roch, war an Sarah etwas anders. Ihr Blut kreiste nicht leicht und schnell wie das des eingemummten Arbeiters oder das von Marlies, es bewegte sich schleppender
durch ihren Körper. Zum ersten Mal gestand Carl sich ein, was seine Instinkte ihm schon längst verraten hatten: Sarah war krank, schwer krank. Er spürte einen Stich im Herz, am liebsten hätte er sie in seine Arme genommen und ihr über das wundervolle Haar gestrichen. Doch der Hunger schob ihm die Beißzähne aus dem Kiefer und ließ ihn an nichts anderes mehr denken als an Sarahs blau schillernde, pochende Halsschlagader. Mit einem einzigen Biss könnte er die Ader öffnen, und Sarah würde nur eine diffuse, süße Lust spüren, während er ihr warmes Leben in sich saugte …
Carl schüttelte den Kopf, um sich von den Hungervisionen freizumachen. Er ignorierte die Krämpfe in seinem Magen und erinnerte sich, wie Sarah sich vor ein paar Stunden am Hotel von ihm verabschiedet hatte. Trotz der klirrendkalten Nacht überlief es ihn heiß bei der Erinnerung daran, wie sie ihm ein paar Worte ins Ohr geflüstert hatte. Diese Hitze wollte er mit Sarah teilen, nicht den Blutrausch.
Sarah hatte ihr Haus erreicht und suchte in der Handtasche nach dem Schlüssel. Ein leichter Wind trug ihren Geruch zu ihm, und der Hunger flammte stärker auf als zuvor. Hier war ein leichtes Opfer, ein williges Opfer, das ihm vertraute. Ein Opfer, das nicht mehr lange zu leben hatte, mehr noch: ein Opfer, dem der Willen zum Leben fehlte.
Sarah verschwand im Haus, und das unwiderstehliche Aroma von Blut verflüchtigte sich in den Gerüchen der Winternacht. Carl atmete auf, machte ein paar ziellose Schritte durch den Schnee und steuerte dann auf die Apotheke zu. Wenn Sarah der Wille zum Leben fehlte, dann würde er ihn ihr zurückgeben. Krankheiten konnten besiegt werden, und er besaß Mittel, die den Sterblichen nicht zur Verfügung standen. Er klingelte am Nachtschalter, und wenig
später erschien eine ältere Frau in einem weißen Kittel. Carl streifte ihren Geist und fand sofort, wonach er gesucht hatte.
Schlaftabletten . Sarah hatte nur Schlaftabletten gekauft.
Wo war Carl? Seit Einbruch der Dunkelheit hielt Sarah nach ihm Ausschau, aber er hatte die Lobby nicht betreten.
Am Donnerstag und Freitag hatte sie gefehlt, weil sie mit Fieber im Bett gelegen hatte. Das Wochenende hatte sie genutzt, um wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen. Es war unglaublich, wie viel Arbeit an zwei verpassten Tagen in der Vorweihnachtszeit liegen blieb. Eine gute Tat für den Adventskalender hatte sie auch noch nicht. Der Kollege, der den Kalender am Wochenende betreute, hatte die nichtigsten Dinge belohnt. Steiner sagte natürlich kein Wort, doch er warf ihr vorwurfsvolle Blicke zu. Einer gut aussehenden Blondine den Rollkoffer durch die Lobby zu schieben, verdiente eben keinen Gutschein für ein opulentes Candlelight-Dinner, vor allem dann nicht, wenn sich herausstellte, dass der vermeintliche Gentleman der Freund der Blondine war. Da könnte sie ja gleich Carl mit einem Geschenkkorb beglücken dafür, dass er ihr immer so zuvorkommend in den Mantel half. Wo steckte er bloß?
Sie musste ohnehin hinauf in den dritten Stock, wo die Zimmer für eine Reisegruppe aus Österreich vorbereitet wurden. Da konnte sie auch noch bei Carls Zimmer vorbeischauen.
Der Aufzug zuckelte ratternd nach oben. Im zweiten Stock stieg ein junges Pärchen ein, das, den gestylten Outfits nach zu urteilen, eigentlich in die Lobby wollte. Die beiden kicherten, er hatte den Arm um ihre Hüfte, sie die
Hand in der Gesäßtasche seiner Jeans. Sarah war genervt und gleichzeitig eifersüchtig. Erleichtert verließ sie im nächsten Stockwerk den Aufzug.
Sie sollte nicht mehr
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