Schneegeflüster
bloß geritten, den Notrufknopf zu drücken? Er hatte so verführerisch rot geleuchtet, so rot wie ihr Zorn, ihre endlich sich Bahn brechende Empörung. Irgendwie war es nur logisch gewesen, da einmal ordentlich draufzuhauen. Nun war das Notrufgerät abgerissen, in der DRK-Zentrale dachten sie vermutlich, es wäre ein übler Scherz gewesen.
Könnte Paul ihr diese Szene jemals verzeihen? Vielleicht sollte sie alles leugnen. Behaupten, es sei nie geschehen. Oder die Ehe fuhr tatsächlich gegen die Wand. Warum nur
ließ Paul sie immer so hängen, sobald es um seine Mutter ging? Nie stand er hinter ihr.
Am Tannenbaum waren die Kerzen schon bis auf das letzte Drittel abgebrannt. Aus dem Rest des Hauses war nichts zu hören. Was passierte jetzt gerade hinten in den Schlafräumen? Weinte Luisa noch? Wusste Paul alles und war wütend? Benahm sich Renate wie eine Furie? Natalie saß allein und unglaublich einsam im Halbdunkel des Wohnzimmers und betrachtete den Weihnachtsbaum. Die meisten Geschenke waren nicht einmal ausgepackt. Was wohl für sie darunter lag?
So richtig neugierig war sie nicht, Paul war nicht gerade ein genialer Schenker. Meist waren es Dinge wie ein Schal oder ein paar schöne Handschuhe. Wie immer stand auch eine Eierlikörflasche unter dem Baum - die bekam Renate jedes Jahr von ihnen geschenkt. Ganz spezieller Eierlikör von einem Ökogutshof. Ohne Farbstoffe, ohne künstliche Zusätze und Konservierungsmittel. Der schmeckte toll, Renate liebte ihn über alles. Dieser dämliche Eierlikör schien das Einzige zu sein, was sie an der Heimat liebte - außer ihrem Sohn Paul.
Ich könnte jetzt so einen Eierlikör brauchen, dachte Natalie, langte nach vorn und schnappte sich die Flasche. Nach kurzem Kampf mit dem Schraubverschluss war sie offen. Natalie holte eine von Renates geliebten Bauhaustassen aus der Vitrine und füllte sie mit dem dicklich-gelben Zeug, das träge aus dem Flaschenhals suppte. Sie trank einen ersten Schluck. Der Alkohol brannte in der Kehle, zugleich hatte der Eierlikör die weiche Milde eines Vanillepuddings. Genau richtig. Noch einen Schluck.
Zwanzig Minuten später war die Flasche zu einem Drittel
geleert, und Natalie fühlte sich schon viel wohler. Gut, dieses Weihnachten war komplett danebengegangen, und für Luisa tat es ihr wirklich sehr leid. Aber es würden weitere Weihnachtsfeste kommen, ganz andere, wunderschöne. Sie würde alles wiedergutmachen. Und nie wieder Weihnachten bei Renate. Das war doch was.
»Oh du fröhliche«, begann Natalie leise kichernd zu summen. Plötzlich stand Paul im Raum. Er war wütend, es war ihm anzusehen.
»Du singst«, sagte er nur knapp.
Natalie schrak zusammen, schuldbewusst. »Geht es Luisa gut?«
»Sie schläft - endlich. Ich habe das Playmobil-Puppenhaus noch mit ihr aufgebaut. Das hat sie ein wenig beruhigt.«
Natalie hielt ihm auffordernd die Eierlikörflasche hin, aber Paul lehnte mit einem Kopfschütteln ab. Also goss sich Natalie noch einen ein.
»Ist nicht gut gelaufen, dieses Weihnachtsfest«, sagte sie nüchtern, obwohl sie es nun wirklich nicht mehr war.
»Das kann man so sagen«, bestätigte Paul.
»Liebst du mich noch?«, fragte Natalie jetzt und schaute ihn offen an.
»Ob ich dich noch liebe?«, wiederholte er erstaunt - oder einfach, um Zeit zu gewinnen. »Also, wenn es stimmt, was meine Mutter sagt, dann hast du vor etwa zwanzig Minuten den Notrufknopf gedrückt, einfach so. Kannst du mir erklären, was das soll?«
»Vergiss doch den blöden Knopf, ich wollte sie einfach loswerden. Liebst du mich noch, Paul? Deine Mutter behauptet, du hättest mich nie richtig geliebt.«
»Loswerden«, echote Paul ungläubig. »Wie meinst du das: loswerden?«
»Sie mir vom Halse schaffen: Ein Schlag auf die Taste, und zack, kommt der Krankenwagen und holt sie ab. So dachte ich mir das.«
»Natalie!«, rief Paul entsetzt.
»Hat aber nicht geklappt. Niemand will deine Mutter. Noch nicht mal das DRK.«
»Ich dachte, du magst meine Mutter!«
»Das ist doch völlig egal, ob ich deine Mutter mag oder nicht. Denn bei deiner Mutter zählt nur eines: Sie mag mich nicht. Sie hasst mich regelrecht. Sie findet, ich bin nicht gut genug für dich. Weil du ein toller Junior-Professor bist, und ich bin ein Niemand. Ach ja, eine gute Mutter bin ich auch nicht. Auch das hat sie mir heute Abend mitgeteilt.«
»Das glaube ich nicht, Natalie. Du übertreibst. Meine Mutter würde nie so reden.«
So lief es immer. Jedes Mal. Er gab ein bisschen
Weitere Kostenlose Bücher