Schneegeflüster
Paul. »Nein, da drunter hockt meine Frau. Wie sind Sie hier hereingekommen?«
»Wir haben den Hausschlüssel Ihrer Mutter. Sollten wir Ihre Frau nicht da rausholen? Der Tannenbaum liegt auf ihr«, fragte der Notarzt hörbar irritiert.
Natalie trank noch etwas Eierlikör. Sie begann zu singen: »Last christmas, I gave you my heart. But the very next day, you gave it away.« Der Typ vom DRK sollte wenigstens etwas geboten kriegen.
»Nein, sehen wir erst nach meiner Mutter. Die hat sich hinten hingelegt, ich glaube, ihr Blutdruck war ziemlich hoch. Es gab heute Abend ein paar unschöne Szenen«, erläuterte Paul.
»Was Sie nicht sagen.« Natalie meinte, Ironie in der Stimme des Notarztes zu hören. »Wir sollen wirklich nicht erst Ihre Frau …?«, hakte er nochmal nach.
»Vergessen Sie meine Frau. Erst meine Mutter.«
Unter dem Haufen lachte Natalie empört auf. »Erst meine Mutter! Ja, das ist dein Lebensmotto! So läuft es immer, immer, immer.« Und dann stieß sie einen Schwall von Flüchen
aus. Von draußen war nichts mehr zu hören. Vermutlich begleitete Paul den Notarzt zu seiner Mutter.
Renate machte bestimmt ein großes Theater. Das konnte sie gut. Kein Wunder, dass ihr Paul ein Scheidungskind war.
»Blödmann! Schwachmat! Flasche!«, schimpfte Natalie leise vor sich hin. Immer noch hielt sie die Eierlikörflasche in der Hand. Sie wollte einen weiteren Schluck nehmen, ließ es aber, betrachtete die Flasche plötzlich angewidert und warf sie weg. Sie rollte unter den Couchtisch. »Schöne Scheiße«, murmelte Natalie und versuchte sich aufzurichten. In den Tannenbaum-Baldachin-Haufen kam Bewegung.
»Ich hole Sie jetzt da raus, Frau Pilitzsch«, hörte Natalie jetzt. Musste wohl der Notarzt sein.
»Nicht Frau Pilitzsch! Nur angeheiratet«, betonte Natalie aus ihrer Höhle heraus.
»Also gut, Frau Pilitzsch, geborene …«, kam es zurück. In diesem Moment wurde das Baldachintuch hochgehoben. Natalie musste blinzeln, so hell war es jetzt im Wohnzimmer. Jemand hatte alle Lampen angeschaltet.
»… Röttgen«, sagte Natalie in das blendende Licht hinein.
»Natalie Röttgen! Das glaube ich nicht!«, antwortete der Notarzt bass erstaunt.
»Sie kennen meine Frau?«, fragte Paul nicht weniger überrascht.
»Ja, aus dem Studium. Grundkurs Anatomie. Natalie hat ja dann abgebrochen«, sagte der Notarzt.
»Noch einer, der mir Vorwürfe macht«, seufzte Natalie und musste feststellen, dass sie leicht lallte. Dafür gewöhnte sie sich schnell an die Helligkeit und erkannte alles wieder gut, auch den Notarzt. »Paul, darf ich vorstellen, das ist Oliver Brandtstätter. Oliver, das ist Paul.«
»Auf unserer Hochzeit waren Sie aber nicht«, sagte Paul misstrauisch.
»Oliver und ich haben uns aus den Augen verloren, nicht wahr, Oliver?«, sagte Natalie so schnell, wie es ihr Zustand zuließ. Na, zumindest kriege ich noch alles mit, dachte sie. Jetzt begann sich allerdings der Raum zu drehen. »Oh, oh, oh«, jammerte Natalie.
Oliver Brandtstätter hielt die Eierlikörflasche hoch, betrachtete erst sie, dann Natalie kritisch. »Nicht mehr viel drin«, sagte er trocken.
»O Gott, der Eierlikör für meine Mutter. Die Flasche lag eben noch verschlossen unter dem Tannenbaum. Natalie, hast du das Zeug etwa ganz allein weggesoffen? Bist du völlig durchgedreht?!«
»Ich glaube, mir wird schlecht«, murmelte Natalie.
Paul stürzte sich förmlich auf den Notarzt. »Können Sie irgendetwas machen, bitte, schnell! Das Wohnzimmer meiner Mutter hat sie schon zerlegt, wenn jetzt noch …« - Paul machte eine entsprechende Geste - »… dazukommt, dann kriegt meine Mutter einen Nervenzusammenbruch.«
»Mein Albtraum hat nen Namen: Renate, Renate«, sang Natalie plötzlich. Sie spürte, wie sie am Arm gepackt wurde und jemand sie vorsichtig hochzog. »Ich nehme sie mit in die Notaufnahme, wir haben da ein paar Tricks. Mit der Alkoholmenge ist nicht zu spaßen, das kann auch schnell mal eine Vergiftung geben. Natalie ist ja eine zierliche Person«, sagte Oliver Brandtstätter zu Paul. Vorsichtig geleitete er Natalie Richtung Hausflur. »Natti, Natti, was machst du bloß«, sagte er leise, aber mehr zu sich selbst als zu seiner Patientin. Dann reichte er Natalie, die längst auf Feinstrumpfhosen lief, Renates pakistanische Lederpantoffeln.
Natti, den alten Spitznamen hatte sie lange nicht mehr gehört. Umständlich zog sich Natalie die Lederpantoffeln an.
Oliver Brandtstätter, mit dem hatte sie heute Abend nun wirklich
Weitere Kostenlose Bücher