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Schneegeflüster

Titel: Schneegeflüster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind , Rebecca Fischer , Steffi von Wolff , Andrea Vanoni
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sie gleich explodieren. Sie war es nicht gewohnt, angebrüllt zu werden.

    Der Blutdruck, plötzlich musste Natalie daran denken. Renate war in letzter Zeit manchmal umgefallen, einfach so, immer wenn sie zu Hause war. War sie mal nicht auf Reisen und kam zur Ruhe, plumps, schon konnte es passieren, dass sie auf dem Boden ihres Bungalows lag. Die Ärzte sagten, da könne man nicht viel machen, das sei eine Alterserscheinung. Man nenne das einen Mini-Schlaganfall. Paul und sie hatten Renate überreden können, einen DRK-Notrufknopf im Wohnzimmer zu installieren - damit sie, sollte sie einmal unglücklich stürzen, wenigstens schnell Hilfe holen konnte. Eitel, wie Renate war, weigerte sie sich, sich das tragbare Funk-Notsignal um den Hals zu hängen.
    »Ich bin doch nicht gebrechlich! Ich bin 73 Jahre alt, das ist doch kein Alter. Außerdem arbeite ich noch, ich reise durch die Welt«, hatte sie geschimpft. Aber zumindest die Notruf-Basis stand im Bungalow-Wohnzimmer, und zwar auf dem Tischchen aus Sandelholz von der Elfenbeinküste, etwas versteckt hinter Gebetsglocken aus Bali, die ihr dort einst ein Brahmanenpriester geschenkt hatte. Natalies Blick streifte den roten Notrufknopf, er leuchtete verführerisch im dämmrigen Weihnachtskerzenlicht.
    »… du hast keinen Ehrgeiz, das hat mich von Anfang an gestört. Wie willst du denn für deine Tochter ein Vorbild sein? Als ich in deinem Alter war, war ich schon die Herausgeberin einer ethnologischen Buchreihe, ich, eine Frau, eine Mutter, und so jung. Und du, wer bist du? Niemand. Sitzt stundenlang da und überholst dein altes Puppenhaus, das ist doch albern, das machen nur Frauen, die nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen, und die vom Geld ihres Mannes leben …«
    Renate hörte überhaupt nicht mehr auf, es strömte nur
so aus ihr heraus. Alles, was sie ihrer Schwiegertochter in all den Jahren immer schon hatte sagen wollen. All die Verachtung, die Natalie immer gespürt hatte. Plötzlich war klar: Es war keine Einbildung gewesen. Nein, sie war nicht überempfindlich und »viel zu negativ«, wie Paul immer behauptete. Zwischen ihrer Schwiegermutter und ihr stand es genau so, wie es Natalie immer empfunden hatte. Renate würde sie nie als Schwiegertochter akzeptieren. Sie konnte Natalie nicht leiden, nicht als Frau, nicht als Mutter. Da war nichts zu retten.
    Schluss, dachte Natalie. Ich will nicht mehr. Ich mache dem ein Ende. Ohne weiter nachzudenken, langte sie hinter die silbernen Gebetsglocken und drückte den roten Notrufknopf. Es ging ganz leicht.
    Gleich würde es vorbei sein. Die Männer in Weiß würden sie abholen und weit wegbringen, diese giftspritzende Hexe - nur weg mit ihr.
    Renate war bleich geworden. »Du hast doch nicht gerade …«
    Das Notrufgerät knackte. »DRK-Notrufzentrale. Frau Pilitzsch - Sie haben sich gerade gemeldet. Alles in Ordnung bei Ihnen?«
    »Arrggghhhh«, jaulte Renate auf, die, obwohl sie sich selbst für gelassen und nüchtern hielt, durchaus einen hysterischen Zug hatte. Sie versuchte, an das Notrufgerät zu kommen, Natalie hielt sie ab, indem sie sich davorstellte. Es kam zu einem Gerangel, die Gebetsglocken fielen krachend zu Boden, ein ziemlich unheiliges Geräusch.
    »Was ist bei Ihnen los, melden Sie sich bitte. Sind Sie gestürzt? Hallo, Frau Pilitzsch?«
    »Ich bin …«, keuchte Renate in Richtung des Apparates.
    O nein, schoss es Natalie durch den Kopf, sie wird ihnen sagen, dass alles in Ordnung ist. Das darf nicht sein.
    Natalie riss das Stromkabel aus der Dose. Etwas anderes fiel ihr nicht ein. Der DRK-Apparat war tot - kein Leuchten der Lampen mehr, kein Knacken des Funkkontakts. Nichts.
    »Damit hast du dein Ende besiegelt«, zischte Renate sie an. »Du wirst nie wieder einen Fuß in dieses Haus setzen, ich werde jetzt Paul alles berichten, deine Ehe ist Geschichte. Du kannst froh sein, wenn du deine Tochter behältst. Du bist ja krank.«
    Mit diesen Worten rauschte Renate aus dem Wohnzimmer in Richtung Gästezimmer, wohin Paul sich mit Luisa zurückgezogen hatte.
    Natalie ließ sich in ein Sofa fallen. Wie hatte dieser Heilige Abend so schiefgehen können? Renate hatte recht - das war krank. Man konnte sich doch nicht mit seiner Schwiegermutter rangeln, einer alten Frau. Zwar eine alte Frau, die noch im letzten Jahr die Taek-Wan-Do-Riten in einem koreanischen Kloster studiert hatte, aber das half jetzt auch nichts. Moralisch hatte Natalie sich ganz klar ins Aus katapultiert. Was in aller Welt hatte sie

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