Schneegeflüster
Gardinen. Das sieht ja aus wie das Bühnenbild eines Provinztheaters.« Renate wurde heftiger, sie gestikulierte mit den Händen.
»Die Gardinen sind ganz neu genäht!« Auch Natalie wurde lauter. »Und überhaupt, Renate, wie abfällig sprichst du über mein altes Puppenhaus?«
»Luisa ist ein eigener Mensch. Hör auf mit deinen Projektionen. Werd endlich erwachsen«, zischte Renate leise und sehr böse. Natalie blieb die Luft weg.
»Du Hexe!«, platzte es aus Natalie heraus. Endlich war es ausgesprochen. Das lange angestaute Unbehagen, der zurückgehaltene Zorn brachen sich Bahn. Das tat gut.
Ein heftiges Schluchzen unterbrach die beiden Frauen. Luisa weinte. Und wie. Es schüttelte sie regelrecht. »Ich will mein Playmobil-Puppenhaus behalten! Bitte, Papa, bitte.« Paul, der beide Frauen gleichermaßen wütend anfunkelte, nahm seine Tochter liebevoll in die Arme und hob sie hoch. Den Playmobil-Karton hielt Luisa dabei fest umklammert. »Mein Puppenhaus, das ist mein Puppenhaus.«
»Ich gehe jetzt mit Luisa nach hinten, beruhige sie und bringe sie ins Bett. Wenn ich wieder zurückkomme, erwarte ich, dass ihr beiden euch versöhnt habt. Es ist Heiligabend, verdammt noch mal.« Paul sprach nicht laut, aber wütend.
»Paul, deine wundervolle Mutter hat unserer Tochter ein beklopptes Plastikdreckshaus gekauft, obwohl sie genau wusste, dass ich seit Wochen jeden Abend nichts anderes getan habe, als Luisas Puppenhaus-Geschenk vorzubereiten.
« Natalie konnte es nicht fassen, dass Paul die Schuld gleichermaßen verteilen wollte.
»Das ist kein Plastikdreckshaus«, schluchzte Luisa in das Hemd ihres Vaters.
»Reißt euch zusammen. Alle beide.« Paul drehte sich um und ging in Richtung Gästezimmer, wo Luisa heute Nacht zusammen mit ihren Eltern schlafen sollte.
»So«, sagte Renate. »Jetzt hast du dem Kind das Weihnachtsfest verdorben.«
»Ich habe Luisa das Weihnachtsfest verdorben. Ich ?« Natalies Stimme schraubte sich hoch. Vermutlich war sie im ganzen Haus zu hören, der Bungalow war sehr hellhörig.
»Ihr anzudrohen, dass du ihr das Geschenk abnimmst - wie kann man nur so grausam zu seinem eigenen Kind sein.« Renate wollte keinen Frieden schließen.
»Gib es doch endlich zu: Du hast ganz genau gewusst, dass ich ihr dieses Jahr mein altes Puppenhaus schenke. Und auch wie viel Arbeit ich da reinstecke. Schlechte Telefonverbindung, lächerlich. Dir geht es doch gar nicht um Luisa. Du willst mich fertigmachen, und zwar vor meiner Tochter - das ist deine wahre Bescherung heute Abend.«
»Siehst du, schon wieder! Du kannst nicht trennen zwischen dir und deinem Kind. Sei doch ehrlich: Ich habe Luisa das Puppenhaus gekauft, das sie sich wirklich gewünscht hat. Ich, nicht du. Denn du hörst deiner Tochter ja überhaupt nicht zu. Du bist so narzisstisch.«
»Ich bin narzisstisch? Ich denke nur an mich? Und das sagst ausgerechnet du, der selbstgerechteste Mensch, den ich kenne! Von Anfang an hast du meine Ehe mit Paul sabotiert …«
»Ach, deine Ehe mit Paul. Die hält doch eh nicht mehr lange.«
»Was? Was nimmst du dir heraus!« Jetzt brüllte Natalie.
»Du bist einfach nicht die Richtige für ihn. Das habe ich ihm gleich gesagt. Aber er ist eben so entscheidungsschwach wie viele Männer. Er hatte nicht den Mut, dir zu sagen, dass er dich nicht mehr heiraten will.«
»Was redest du da?«
»Meinst du, es war wirklich der Stau, der ihn damals zu spät zum Standesamt hat kommen lassen? Nein - er hat gezögert. Mehr noch. Er hatte kalte Füße, weil er genau spürte, mit dir wird das nichts. Du bist zwar eine Hübsche, aber sonst? Intellektuell bist du ihm nicht gewachsen. Ein junger Professor mit Aussicht auf mehr - der braucht jemand anders als eine, die lächerlicherweise drei Studien abgebrochen hat und jetzt als Hobby einen kleinen Spielzeugladen führt.«
Jetzt war es raus. Offen ausgesprochen. Endlich, nach sechs Jahren. Natalie hatte ihn immer schon gespürt, diesen schwelenden Vorbehalt. Ihre Schwiegermutter, die hochdotierte Denkerin, trat aus der Deckung hervor: Natalie war ihr als Schwiegertochter nicht gut genug. Kein akademischer Abschluss, keine beruflichen Lorbeeren. Nur der kleine Laden, den sie mit viel Liebe führte. Entschieden zu wenig in Renates Augen.
»Weißt du, es gibt ein kasachisches Sprichwort: ›Kommt der Bräutigam mit Staub an den Schuhen zur …‹«
»Ich kotze auf dein kasachisches Sprichwort!«, schrie Natalie ihr ins Gesicht. Renate lief rot an. Knallrot. Als würde
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