Schneegeflüster
etwas zu, strich das meiste weg und glättete die ganze Sache wieder - bis zum nächsten Mal.
Diesen Streit hatten Paul und Natalie schon so oft geführt, es war, als leierten sie den Dialog eines schlechten Drehbuchs herunter. Doch, deine Mutter redet so über mich. Tut sie nicht. Tut sie doch - hin und her. Ihr Ehe-Tennis. Niemand gewann am Ende, irgendwann gab einer von ihnen ermattet auf. Doch der Eierlikör tat seine Wirkung, Natalie hatte keine Lust mehr, sich an die Regeln zu halten. Sie warf ein Gebetskissen vom Sofa nach ihrem Mann.
»Natalie, was soll denn das?«, schrie Paul auf. Das machte Spaß, Natalie packte das nächste Kissen - es waren tibetische Gebetskissen mit schwerer Füllung, sie warfen
sich besonders gut. Dieses Mal traf Natalie Paul direkt am Kopf.
»Sag mal, spinnst du jetzt komplett?«, fragte er fassungslos und tat einen Satz hinüber zum Baum, um in Windeseile die Kerzen auszupusten.
»Nie stehst du hinter mir, wenn es um deine Mutter geht«, maulte Natalie. Lustlos flog ein weiteres Kissen. Jetzt hatte er seine Chance, den Abend zu retten - er musste nur einmal einlenken. Nur einmal ihr recht geben. Aber er tat es nicht.
»So verrückt, wie du bist, triffst du noch den Baum! Willst du den geliebten Bungalow meiner Mutter abfackeln?«
Das hätte Paul lieber nicht sagen sollen, denn das Kissenbombardement wurde schlagartig dichter. Renate hatte viele, viele Asienreisen in ihrem Leben unternommen, und da waren viele, viele Gebetskissen zusammengekommen. Natalie zielte nur auf den Mann, nicht auf den Baum, aber Baum und Mann, sie standen nun dicht beieinander, und Paul pustete so heftig, dass sein Gesicht schon stark gerötet war. »Mama ist die Beste, Mama ist die Beste«, rief Natalie fröhlich bei jedem Wurf.
Paul legte noch einen Zahn zu. Glücklicherweise waren einige Kerzen schon heruntergebrannt. Bei der letzten Kerze angekommen, bekam Paul wieder ein tibetisches Gebetskissen an den Kopf, ein mit Gold- und Silberfäden und Perlen üppig besticktes, und entweder der Schlag war so hart oder er hatte zu oft, zu hastig und zu tief Luft geholt, auf jeden Fall begann sich das Zimmer leicht um Paul zu drehen, weshalb er nach dem Ersten griff, was er zu fassen kriegte, und das war der Tannenbaum.
Der Baum in seinem eher labilen Ständer begann daraufhin heftig zu schwanken und fiel in Natalies Richtung. Allerdings nicht, ohne vorher noch den jüdischen Hochzeitsbaldachin herunterzureißen, den Renate vor zwei Jahrzehnten in Shanghai aufgetan hatte, ein wunderschön besticktes Tuch und vier alte verzierte Holzstangen. Renate, die Weltmeisterin aller ethnologischen Klassen, brachte immer Unglaubliches von ihren Reisen mit.
Der Tannenbaum riss also den Baldachin, den Renate über ihre Sofaecke hatte spannen lassen, herunter und begrub Natalie unter Stoff, Stangen und Tannenzweigen.
Es war ziemlich dunkel in ihrem Tannenverhau, fand Natalie, der es trotzdem prima ging. Gerührt stellte sie fest, dass ein feiner Lichtstrahl durch einen Riss im Baldachintuch seinen Weg zu ihr fand, so wurde der Verhau ein wenig erhellt. Ganz gemütlich hier drin, dachte Natalie. Und sieh an, die Eierlikörflasche stand noch, der fallende Tannenbaum hatte ihr nichts anhaben können. Natalie griff sich die Flasche und trank direkt daraus.
Eigentlich doch ein ganz schönes Weihnachtsfest. Draußen hörte Natalie Bewegung, offensichtlich versuchte Paul, den Baum anzuheben. Kurz spürte sie, wie sich das Tannengewicht von ihr hob, doch dann ließ er den Baum wieder los, und alles war wie zuvor.
»Die ganzen schönen Kugeln meiner Mutter, alle kaputt«, hörte sie Paul schimpfen. Er hatte anscheinend nicht mehr vor, sie aus dem Verhau zu befreien. Verflucht, er fragte nicht mal, ob es ihr gut ging oder ob sie verletzt war. »Die Kugeln sind aus der Drogerie, du Blödmann«, rief Natalie und trank noch einen Schluck.
Eine kurze Stille trat ein. Und dann hörte Natalie die
Haustür aufgehen. Haute Paul ab? Diese Memme. So war er - Weihnachten ruiniert, Tochter todtraurig, Wohnzimmer der Mutter verwüstet, Ehe in Scherben, und Paul verzog sich. Natalie spürte, wie wieder die Wut in ihr hochstieg. »Blödmann, Blödmann, Blödmann!«, schrie sie nochmals. Das machte richtig Spaß. Noch nie hatte sie Paul so angebrüllt. Heute war wohl der Abend der Neuerungen.
Zu ihrem Erstaunen antwortete ihr eine fremde Stimme.
»DRK-Notdienst, ich bin der Notarzt. Frau Pilitzsch, sind Sie da drunter?«
Dann plötzlich
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