Schneegeflüster
Befehl. Hauch mich mal an.«
»Das ist doch eklig«, sagte Natalie. »Und wozu soll das überhaupt gut sein?«
»Alkoholtest. Außerdem weiß ich dann, ob ich dich wieder unter Menschen lassen kann. Stell dich nicht so an, ich bin nicht empfindlich. Ärzte können sich das nicht leisten.«
Was soll’s?, dachte Natalie, stellte sich vor ihn hin und hauchte ihn an. »Hmmm«, sagte er. »Riecht frisch. Muss mal unsere Schwestern für die Zahnpasta loben. Und jetzt gib mir deinen Arm.« Oliver legte die Finger auf ihren Puls und schaute dabei auf seine Uhr. Wie gut er roch, dachte Natalie. Genau wie früher. Sie spürte seine Körperwärme, so nah waren sie sich. Er lehnte immer noch an der Liege. Sie kannten sich noch gut, beide spürten es.
»Alles in Ordnung«, sagte er. »Du kannst jetzt gehen.« Aber er hielt ihren Arm immer noch fest, und sie bewegte sich keinen Zentimeter von ihm weg. Eher hin - ganz sanft, ganz sacht.
»Würdest du noch mal testen …«, sagte sie und näherte sich mit ihrem Mund seinem.
»Gern«, antwortete er, und dann küssten sie sich, zum ersten Mal seit über zehn Jahren. So ein schöner Kuss. Olivers Arm umschlang jetzt Natalie, die griff ihm in die Haare, diese schönen lockigen Haare, und dann wanderten vier Arme kreuz und quer - Olivers Stethoskop fiel auf den Linoleumboden, auch das Hämmerchen für die Reflexe, jetzt lagen sie schon auf der Liege, knutschend, selbstvergessen, da schob Oliver sie liebevoll ein wenig zur Seite. »Einen Moment«, sagte er, erhob sich, ging mit schnellen Schritten
zur Tür und schloss ab. Dann griff er auf seinen Schreibtisch, das mittlere Fach einer Schreibtischablage, und holte ein Kondom hervor.
Erschrocken richtete sich Natalie auf.
»Sag mal, machst du das hier öfter?«, fragte sie irritiert, obwohl sie es sich nicht vorstellen konnte. Oliver war nie der Aufreißertyp gewesen.
Er lief tatsächlich ein wenig rot an. Wie süß, dachte Natalie. »Die Aids-Hilfe war gestern hier. Zu Weihnachten verteilen die in der Notaufnahme immer Gratis-Kondome«, sagte er und zeigte als Beweis das verpackte Kondom. »Schöne Bescherung - Ihre Aids-Hilfe«, stand drauf. Und tatsächlich, es wurde eine schöne Bescherung.
Eine Stunde später saß Natalie im Taxi zurück zur Schwiegermutter. Olivers Handynummer hatte sie in der Tasche, sie hatten doch noch einen Kaffee zusammen getrunken, einen Automatenkaffee im Foyer des Krankenhauses, und glücklich vor sich hin gelächelt. »Ein schönes Weihnachten«, hatte Oliver am Ende gesagt. »Finde ich auch«, hatte Natalie geantwortet.
Das Taxi fuhr jetzt auf den Bungalow zu. Natalie sah Licht im Wohnzimmer, Paul räumte wohl noch auf. Was nun? Das Taxi hielt, Natalie zahlte - 24,50 Euro, zum Glück hatte Oliver ihr Geld mitgegeben. »Schöne Restweihnachten noch«, wünschte ihr der Taxifahrer, dann fuhr er weg.
Schneefall hatte eingesetzt, ganz sacht bedeckten die Flocken den Rasen, den Bungalow, den Weg. Natalie stand im knappen Schwarzen und in pakistanischen Lederpantoffeln im Garten ihrer Schwiegermutter und schaute nach oben in den dunklen Himmel. Es schneite auf sie herunter, wie wunderbar. Sie streckte die Hände aus, um Schneeflocken zu
fangen, und plötzlich musste sie lachen und begann sich zu drehen, so glücklich war sie.
Paul, der tatsächlich noch aufräumte, noch immer wütend, hörte ein Geräusch und sah hinaus - da stand seine Frau im Garten und drehte sich wie ein Kind, das sich über den ersten Schnee freut. Wie schön sie war. Er war ganz erstaunt. Wann hatte er Natalie zuletzt wirklich angeschaut? Seine Wut verschwand. Vielleicht, dachte Paul plötzlich, sollte ich mehr auf sie achtgeben. Sonst ist sie eines Tages weg. Schnell warf er das Gebetskissen aufs Sofa, lief zur Garderobe und holte ihren Schal. Es war kalt geworden.
HERA LIND
Die Weihnachtshandtasche
Das vornehme Luxusschiff befand sich am Heiligen Abend irgendwo in der Südsee. Tagsüber war man noch in Tahiti gewesen, morgen am ersten Weihnachtstag würde man bei strahlend blauem Himmel und dreißig Grad in Bora Bora anlegen. Linda Sandmann war als Kreuzfahrtdirektorin für das Entertainment der Gäste zuständig. Für diesen Tag hatte sie an Bord eine Heilige Messe organisiert.
Es hatte sie mehrere nervtötende Telefonate gekostet, den Pfarrer von Papeete zu überreden, die Messe auf dem Schiff abzuhalten.
»Wer am Heiligen Abend einen Gottesdienst besuchen will, soll gefälligst in meine Kirche kommen«, hatte der
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