Schneegeflüster
Geistliche gebrummt.
Linda ließ nicht locker: »Unsere Gäste sind nicht besonders gut zu Fuß. Aber sie möchten unbedingt eine christliche Zeremonie besuchen!«
In Wirklichkeit waren die amerikanischen Multimillionäre, die zu Weihnachten auf dem Luxusliner zu kreuzen
pflegten, dermaßen verwöhnt, dass sie nur noch jene Angebote wahrnahmen, die man ihnen quasi vor die Nase setzte. Ein Fußmarsch durch den Hafen und am Strand entlang bis zur Kirche von Papeete wäre für viele von ihnen bereits als Zumutung empfunden worden. Es wäre auch zwecklos gewesen, den Transport mit Bussen oder Booten zu organisieren; kaum einer wäre eingestiegen. Linda Sandmann sah schon wieder die vielen Beschwerdeschreiben, die auf ihrem Schreibtisch landen würden. Die Gäste zahlten tausend Dollar pro Person und Tag an Bord, da sollte es ja wohl im Preis inbegriffen sein, dass sich am Weihnachtsabend ein Pfarrer an Bord bequemte!
Und dank einer saftigen Dollarspende an die Kirchengemeinde hatte es schließlich auch geklappt. Rechtzeitig zwischen Teezeit und Gala-Diner, genau um 18 Uhr, war der Priester samt einem kleinen Chor und einem Harmoniumspieler ins Theater des Luxusschiffes gekommen und hatte dort vor etwa zweihundert Gästen und ebenso vielen philippinischen Besatzungsmitgliedern die Messe abgehalten. Die Amerikaner präsentierten in den gepolsterten Clubsesseln ihren gesamten Schmuck, die Philippinos nahmen auf der Empore und in den hinteren Reihen stehend beziehungsweise kniend am Gottesdienst teil.
Die Gäste waren zufrieden, war der Chor doch in Landestracht erschienen und hatte heimatliche Weihnachtslieder gesungen. Dass einer der Mitarbeiter vom Unterhaltungsensemble als Santa Claus aufgetreten war und unter lautem »Hohoho«-Rufen Werbegeschenke der Reederei unters Volk geworfen hatte, hatte den Pfarrer zwar verärgert, aber damit musste Linda leben.
Seit zehn Jahren war Linda Sandmann nun als Entertainment-Managerin
auf Kreuzfahrtschiffen unterwegs. Gerade an Weihnachten legte sie großen Wert darauf, bloß nicht in ihrer norddeutschen Heimatstadt zu sein. Sie hasste Weihnachten. Sie hatte eine regelrechte Weihnachtsphobie. All das verlogene Getue um den Baum, das Essen, die Familie, die Geschenke, den Schmuck, die Lieder, überhaupt der ganze grässliche Zwang zum kollektiven Glücklichsein, war ihr zuwider.
Nein, auf dem Schiff konnte sie sich ganz ihrem Job widmen, da war sie beschäftigt mit dem straffen Organisieren, dem Abspulen des Programms, das die Gäste wünschten. Auf diese Weise hatte sie jeden Heiligabend seit jenem furchtbaren letzten Weihnachten zu Hause gnädig überstanden. Nie sah sie, wenn sie aus dem Fenster ihrer Kabine schaute, die Dunkelheit, den nasskalten Asphalt, die kahlen Bäume, den Schneeregen und die graue moderne Kirche ihres Hamburger Vorstadtviertels, an die sie sich so ungern erinnerte. Stattdessen plätscherte türkisfarbenes Wasser an einen Sandstrand, und im Hintergrund waren die hübschen kleinen bunten Häuschen einer Karibik- oder Südsee-Insel zu sehen. Wenn Weihnachten war, befand sich Linda am anderen Ende der Welt.
Und das war gut so.
Um zwanzig Uhr fand für die Offiziere ein gesetztes Essen in einem abgeteilten Raum des Restaurants statt. Auch diese traditionelle Weihnachtsfeier des Kapitäns mit allen wichtigen Streifenträgern hatte Linda organisiert.
Die zahlenden Gäste tafelten in einem anderen Teil des mehrstöckigen Restaurants, unterhaltende Klaviermusik und Stimmengewirr perlten von dort herüber. Die höheren
Offiziere wollten heute, am Weihnachtsabend, ausnahmsweise unter sich sein. An jedem anderen Abend der Reise waren sie verpflichtet, mit den Gästen zu essen. Jeder von ihnen hatte einen eigenen Tisch, an den er immer wieder neue Gäste einladen musste, sodass jeder zahlende Gast am Ende der Reise mit mindestens vier verschiedenen Offizieren gespeist hatte.
Der Raum, in dem das Essen der Offiziere stattfand, war recht ungemütlich, wie Linda fand. Alle übrigen Tische um sie herum waren bereits für das morgige Frühstück eingedeckt. Ab sechs Uhr morgens würden sich hier wieder die hungrigen Amerikaner am Buffet vorbeiwälzen und sich die Teller mit Eiern, Speck, Würstchen, Bohnen und Bergen von frischen Waffeln und Früchten vollladen.
Alle zwölf Streifenoffiziere, darunter der Kapitän, der Staff-Captain, der erste Ingenieur, der Hoteldirektor, der Arzt und der Zahlmeister, waren in ihren Uniformen erschienen. Die Herren waren frisch
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