Schneegeflüster
rasiert, ihre Jacken saßen tadellos, die goldenen Manschettenknöpfe mit dem Emblem des Luxusschiffes glänzten im Schein der Kronleuchter. Außer Linda saß nur noch eine weitere Frau am Tisch, die Hausdame aus der Ukraine. Sie trug ein dunkelblaues wadenlanges Kostüm und hatte ihr Haar zu einem Knoten streng nach hinten gebunden. Linda selbst hatte ein langes schwarzes Abendkleid angezogen, das noch aus ihrer Zeit als Chorsängerin in jenem norddeutschen evangelischen Vorstadtkirchenchor stammte. Sie verband Erinnerungen damit.
An der Wand des ansonsten leeren Restaurants stand ein riesengroßer Weihnachtsbaum, über und über mit roten Kugeln und bombastischem Schmuck beladen. Für Lindas
Geschmack war der Baum viel zu kitschig, aber die Amerikaner liebten es so.
Die Offiziere begannen mit dem Aperitif, den die eifrig wieselnden philippinischen Weinstewards ihnen in perfekter Choreographie kredenzten. Linda nahm ihr Glas Champagner entgegen und hielt es wie alle anderen in die Runde: »Merry Chrismas!« Ihr steifes Berufslächeln war ihr beinahe schon ins Gesicht gemeißelt.
Allgemeines Gemurmel aus verlegenen Offizierskehlen war die Antwort. Der Staff-Captain war ein noch ganz junger Norweger, der sich offenbar beim Rasieren geschnitten hatte. Der Erste Offizier, ein Rumäne, sagte mit starkem Akzent ein paar Worte zu seinem Nebenmann, dem Zahlmeister. Das Gemurmel war nicht zu verstehen.
Man trank. Man setzte das Glas ab. Man schaute auf den festlich gedeckten Tisch. Tafelsilber, edelstes Porzellan, damastene Servietten. Die Weinkellner eilten erneut herbei und brachten die Karte. Der Kapitän entschied, welcher Weißwein zum Fisch und welcher Rotwein zum Fleisch genommen wurde. Man räusperte sich. Man griff erneut zum Glas. »Merry Christmas.«
Der Piepser des polnischen Arztes ging, er entschuldigte sich, sprang auf: »Ein Notfall, sorry!« Er verschwand.
Der Ingenieur schaute auf die Uhr. Es war zehn nach acht.
Der Kapitän fragte den Staff-Captain etwas auf Englisch, dieser antwortete mit italienischem Akzent. Der Kapitän griff zum Telefon und erteilte eine Anweisung. Aus dem knarrenden Funkgerät kam die schnarrende Antwort: »Yes, Sir! Of course, Sir!«
Der Kapitän zupfte am Ärmel seines weißen Hemds, hob
sein Glas und nickte gequält lächelnd in die Runde: »Merry Christmas«. - »Merry Christmas«, murmelten die Offiziere.
Linda leerte ihr Champagnerglas und schaute auf die Uhr, die an der Wand unbarmherzig langsam vor sich hin tickte. Jetzt war es fünfzehn Minuten nach acht. Bald würde auch dieser Heiligabend überstanden sein. Um 22 Uhr begann im Theater die Show. Da würde sie die Künstler ansagen und ein Weihnachtslied anstimmen. Die zwei Stunden bis dahin musste sie jetzt einfach durchstehen. Weihnachten und Silvester, das lag ihr im Magen wie anderen Menschen ein Zahnarztbesuch. Am liebsten hätte sie sich weggebeamt.
Die Vorspeise wurde serviert. Es gab Kaviar mit Blinis. Die Stewards eilten so flink wie das Bordballett mit ihren Silbertabletts um den Offizierstisch herum und boten gehacktes Eiweiß, gehackte Zwiebeln, Sour Cream, Eigelb und Crackers an. »Merry Christmas«, dienerten sie, und »Merry Christmas«, antworteten mit vollem Mund die Offiziere.
Eigentlich, dachte Linda, ist dieses Weihnachtsessen mit den Offizieren trostlos und quälend. Jeder der Teilnehmer schien genau wie sie darauf zu hoffen, dass dieser Abend gnädig vorüberging, aber zu sagen hatten sie einander nicht viel. Keiner dieser Männer gab seine Gefühle preis - falls sie überhaupt welche hatten. Vielleicht dachten sie an zu Hause? Vielleicht vermissten sie Frauen und Kinder?
Die Suppe kam. Erneut hob man das Glas. »Merry Christmas - Merry Christmas.« Vom überfüllten Restaurant nebenan tönte »I’m Dreaming of a White Christmas« herüber, gespielt vom amerikanischen Bordpianisten auf dem Flügel, der auf einer Empore stand.
Eigentlich verrückt, dachte sie, dass wir hier in der Südsee
so etwas spielen. Wenn wir wirklich von einer weißen Weihnacht träumen würden, wären wir ja wohl nicht hier. Sie wusste, dass viele der steinalten und steinreichen amerikanischen Gäste von ihren Kindern über Weihnachten auf das Schiff geschickt worden waren, damit sie zu Hause nicht störten. Hauptsache weit weg. Das war auch Lindas Gedanke zu Weihnachten.
Sie konnte die unbehagliche Stimmung am Tisch nicht länger ertragen. Schließlich war sie für das Bordentertainment zuständig und sozusagen
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