Schneegeflüster
die Berufs-Stimmungsbombe. Dass die Gespräche sich so dahinschleppten und jeder hinter seiner Streifenuniform und hinter seiner Maske verborgen blieb, rechnete sie sich selbst als schlechten Job an. Es musste doch möglich sein, dieses unangenehme Essen mit Würde über die Bühne zu bringen!
»Warum erzählt nicht jeder von Ihnen, wie Weihnachten in seiner Heimat gefeiert wird?«, munterte sie die wortkargen Herren am Tisch auf. Der Vorschlag stieß zunächst auf keinerlei Begeisterung.
»Muss das sein?«, murmelte der bulgarische Ingenieur. »Dazu habe ich keine sonderliche Lust.« Er schaute heimlich auf die Uhr. Es war fünfundzwanzig Minuten nach acht.
Der Kapitän, ein Franzose, griff die Idee der Höflichkeit halber auf und begann zu erzählen, auf Englisch mit seinem französischen Akzent, den Linda ganz bezaubernd fand:
»Bei uns in Frankreich heißt der Weihnachtsmann Père Noël. Er sieht nicht so aus wie der amerikanische Santa Claus, den wir eben im Theater erlebt haben, sondern trägt ein langes rotes Gewand mit Zipfelmütze. Seine Geschenke bringt er nicht in einem Sack, sondern in einem Korb auf dem Rücken. Wie ein Winzer etwa. - Voilà.«
»Aha«, murmelten die anderen und bröselten mit ihrem Brot herum.
»Interessant«, ließ sich die ukrainische Hausdame vernehmen und legte ihren Suppenlöffel zur Seite. Sie hatte als Einzige noch gegessen, die Herren hatten sich die Suppe in kaum einer halben Minute einverleibt.
Die philippinischen Kellner sprangen herbei und räumten in Sekundenschnelle lautlos ab.
»Wir haben in Norwegen dieses riesige Buffett«, spann der norwegische Zahlmeister, ein kräftiger rotwangiger Mann mit blonden Koteletten, das Thema weiter, und seine Augen begannen zu leuchten. »Wir nennen es Julbord, und da türmen sich die Schweine- und Lammrippchen mit Kartoffeln, norwegischem Sauerkraut und Steckrüben.«
Die weitere Erinnerung an seine deftige norwegische Weihnachtsmahlzeit ging unter, denn der Fisch wurde gebracht.
In Windeseile zerteilten die geübten philippinischen Stewards die Doraden, entgräteten sie mit der Geschicklichkeit von Mikadospielern, legten die Grätengerippe dezent auf bereitstehende Teller und richteten die Fischfiletstückchen mit Butterkartöffelchen und zartem Gemüse an. Zwölf Teller waren innerhalb von zwei Minuten identisch übersichtlich angerichtet.
Der Kapitän hob sein Glas, und alle murmelten »Merry Christmas«, bevor sie zu ihren Fischmessern griffen. Er schenkte Linda einen anerkennenden Blick: »Une robe très elegante!«
»Merci«, murmelte Linda und senkte errötend den Kopf. Wenn du wüsstest, dachte sie, wie das im Kirchenchor von Pinneberg wirkt.
»Auch bei uns in Schweden steht das Essen im Mittelpunkt«, bemühte sich der schwedische Maschinenbauingenieur die Unterhaltung in Gang zu halten. »Wir haben das Smörgasbord, und diesen besonderen Weihnachtsschinken, Julskinka. Außerdem trinken wir Glögg, das ist eine Art Glühwein mit Mandeln und Beeren, der in kleinen Bechern serviert wird.«
Der Food-and-Beverage-Manager, ein Schweizer, schnippte mit den Fingern und winkte die Weinkellner heran. Auf Englisch erklärte er ihnen leise seinen Wunsch, und keine fünf Minuten später wurde am Offizierstisch heißer Glögg serviert.
»Merry Christmas«, sagte er mit seinem charmanten Schweizer Akzent und strahlte stolz in die Runde.
Endlich schienen die Offiziere aufzutauen. Nachdem der dänische Guest-Relation-Manager sich warm getrunken hatte, berichtete er über die Kalenderkerze, die abends ins Fenster gestellt wird, und die selbst angefertigten Adventskalender. Er schwärmte von Förtchen, die auf Betriebsfesten beim ersten gemeinsamen Julefrokost zusammen gegessen wurden, und vom starken dänischen Weihnachtsbier Julebryg. Erneut schnippte der Food-und-Beverage-Manager mit den Fingern und raunte dem herbeieilenden Getränkesteward etwas ins Ohr. Dazu machte er den Schlüssel zum Getränkevorratsraum von seinem Schlüsselbund ab.
Kurz darauf erhielt die Offiziersrunde am Tisch im ansonsten leeren Frühstücksrestaurant echtes dänisches Weihnachtsbier.
Man prostete sich zu: »Merry Christmas.«
Der polnische Arzt kam an den Tisch zurückgeeilt, er entschuldigte sich erneut. Obwohl er mit dem Trinken im Rückstand
war, fand er schnell den Einstieg ins Gespräch: »Bei uns in Polen wird den ganzen Advent über gefastet«, erzählte er lächelnd über der Suppe, die ihm in der Sekunde seines Erscheinens nachgereicht
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