Schneegeflüster
worden war. »Wir Kinder warteten sehnsüchtig auf den ersten Stern am Himmel, den Gwiazdka. Erst wenn der aufgegangen war, wurde gegessen. Mutter hat immer ein Gedeck mehr als benötigt aufgelegt. Das war für unerwarteten Besuch gedacht - sehen Sie, so wie ich jetzt! - und ist in Polen ein traditionelles Zeichen der Gastfreundschaft. Außerdem liegt bei jedem Gedeck eine Oblate, die mit einem Heiligenbild bedruckt ist.«
»Wir in Venezuela«, fing der Zweite Offizier am anderen Tischende an, »treffen uns mit der ganzen Familie zu einem üppigen Essen, das unsere abuelas gekocht haben. Dabei sitzen wir auf dem Boden, und im Hintergrund läuft der Fernseher. Wir packen stundenlang Geschenke aus, die wir schon das ganze Jahr über versteckt haben. Dann kommen noch alle Nachbarn und Freunde, und Hühner rennen herum und Kinder schreien. Meistens endet das Ganze mit einer riesigen Sauferei und einer Schlägerei.«
Plötzlich redeten alle durcheinander. Das peinliche Schweigen war in angeregtes Geplauder übergegangen. Erleichtert stellte Linda fest, dass es ihr gelungen war, die schleppende Langeweile und die distanzierte Steifheit vom Offizierstisch zu verscheuchen.
Die Weihnachtsgans wurde serviert. Sie war genau richtig: außen kross und innen zart. Der österreichische Hoteldirektor schwärmte von den wunderbaren Knödeln und dem schmackhaften Blaukraut, das seine Mutter immer mit Nelken und Zimt anreicherte. Von der Gans, die der Vater am Vortag mit nach Hause gebracht und die man in der Badewanne
gerupft hatte. Vom Großvater, der damals noch mit dem Weihrauchkessel im tiefen Schnee um das Haus herumstapfte, um die bösen Geister zu vertreiben.
Weitere Kindheitserinnerungen wurden ausgegraben. Jeder einzelne Offizier erzählte mit leuchtenden Augen von der geheimnisvollen Atmosphäre und von den versteckten Geschenken, die man aber doch schon heimlich gefunden hatte.
Spätestens jetzt, beim samtigen Rotwein aus bauchigen Gläsern, war die Stimmung aufgelockert und prächtig. »Der Nikolaus kam bei uns am 6. Dezember und brachte den Hans Muff mit«, berichtete der deutsche Chefkoch. »Wir machten uns vor Angst in die Hose! Hans Muff hatte ein rabenschwarzes Gesicht, und für uns Jungs gab es Schläge mit der Rute.« Allgemeines Gelächter ertönte, als nun der Österreicher von den gruseligen Perchten mit Rasseln und Kuhglocken berichtete, die traditionsgemäß in der Vorweihnachtszeit durch die Straßen polterten, angeblich heidnische Geister mit grässlichen Tierfratzen, Hörnern und Teufelsmasken, in Wirklichkeit aber junge Männer, die die hübschen Mädchen am Straßenrand aufscheuchten.
Der Cognac wurde gereicht. Der Chefkoch verabschiedete sich, er müsse sich um die brennende Tortenparade kümmern. Der Food-and-Beverage-Manager schnippte wieder mit den Fingern und orderte auch für den Offizierstisch Eistorte mit Wunderkerzen.
Linda sah auf die Uhr. Sie war die Einzige, die sich mit dem Trinken stark zurückgehalten hatte. Schließlich musste sie um 22 Uhr noch die Gala-Show ansagen. Noch eine Dreiviertelstunde, seufzte sie innerlich, dann ist auch dieser Heiligabend wieder geschafft. Unauffällig lehnte sie sich
zurück und nippte an ihrem Wasserglas. Die ukrainische Hausdame berichtete gerade unter Tränen, wie die Weihnachtsfeste ihrer Kindheit abgelaufen waren, mit stundenlangen Gesängen in orthodoxen Kirchen, unglaublich viel Weihrauch und Väterchen Frost, der auf einem Schlitten, der Troika, den Kindern Geschenke brachte.
Der französische Kapitän erzählte von seinem traurigsten Weihnachtsfest: wie sein Vater, ebenfalls Kapitän eines Hochseeschiffes, zwei Tage vor Weihnachten bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen war, und wie man seiner Mutter diese traurige Nachricht am Heiligen Abend überbrachte. Der italienische Staff-Captain wischte sich mit dem Zipfel seiner Damastserviette die Augen. Dann berichtete er von einem Weihnachtsfest in seinem sizilianischen Dorf, an dem man sein Lieblingskaninchen geschlachtet und ihm, dem Ahnungslosen, zum Essen serviert hatte.
Plötzlich wurde es schlagartig still am Tisch. Alle hatten berichtet, alle hatten von ihrem schönsten oder traurigsten Weihnachtsfest erzählt.
»Linda«, sagte der Kapitän mit warmem Unterton in der Stimme, »what about you?«
»Oh«, antwortete Linda und schaute nervös auf die Uhr. »Bei mir gibt es nichts zu erzählen. Ich muss auch gleich die Show ansagen …«
»Erst in einer halben Stunde. Also. Wir sind
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