Schneegeflüster
ganz Ohr.«
Alle hatten sich abwartend zurückgelehnt und drehten ihre Gläser in den Händen. Also gut, dachte Linda. Warum nicht. Die letzte halbe Stunde kriegen wir auch noch rum.
»Sie haben eben von Ihrem schlimmsten Weihnachtsfest erzählt«, begann Linda und deutete mit der Dessertgabel auf den Kapitän, der sie mit tiefbraunen Augen musterte. »Ich
habe auch eine traurige Weihnachtsgeschichte anzubieten.« Ihre Lippen zuckten. »Obwohl Sie, meine Herren, sie möglicherweise höchst amüsant finden werden …«
Der Piepser der Hausdame ging. »Ich muss weg«, stöhnte sie, »jemand hat sich in seiner Kabine übergeben.« Mühsam erhob sie sich und wankte in ihrer eng sitzenden Festtagskluft davon.
»Auch kein schöner Job«, murmelte der italienische Staff-Captain und stocherte in seinem Dessert herum.
»Bitte, Linda«, drängte der Kapitän, »Ihre Geschichte.«
»Also gut.« Linda sah der Hausdame gedankenverloren nach. »Ich war am Heiligen Abend noch mit dem Auto unterwegs, mit dem mein Mann erst eine Stunde zuvor nach Hause gekommen war. Er war als Geschäftsmann viel unterwegs, und ich musste für seine Geschäftsfreunde und auch für seine Mutter die Geschenke organisieren, die er bei mir in Auftrag gegeben hatte.«
Sie lächelte erklärend in die Runde: »Wir hatten damals nur ein Auto.«
Der Italiener grinste: »Isch habe überhaupt keine Auto!«
Linda nahm einen Schluck Wasser. »Mein Mann lag zu Hause in unserem Vorstadthaus auf der Couch vor dem Fernseher und wartete auf das Weihnachtsessen. Auf dem Rückweg von meiner Einkaufsrunde durch das weihnachtlich hektische Großstadtgewühl von Hamburg sollte ich noch seine Mutter abholen. Sie wohnte am anderen Ende der Stadt, etwa eine Stunde von uns entfernt. Es war schon dunkel, und ich hatte es eilig. Wie ich meine Schwiegermutter kannte, stand sie schon ungeduldig vor dem Haus in der Kälte. Also drückte ich ziemlich auf die Tube und wurde von einer Polizeikontrolle angehalten.«
Sie drehte an ihrem Wasserglas, merkte gar nicht, wie aufgeregt sie wurde, während sie sich daran erinnerte: »In Deutschland trinkt man an Weihnachten sehr viel Alkohol, auch auf Betriebsfeiern, und da ich auf einer Ausfallstraße aus Hamburg hinaus unterwegs war, musste ich gleich ins Röhrchen blasen. Ich hatte aber null Promille im Blut. - Dann wollten die Beamten die Fahrzeugpapiere sehen. Ich war sehr nervös und wühlte im Handschuhfach herum, und schließlich fiel der ganze Krempel heraus. Die Polizisten kontrollierten das, was sie brauchten, und ich sortierte die Papiere wieder ein. Dabei fand ich einen Überweisungsschein, den mein Mann erst an dem Tag, also am 24. Dezember, ausgefüllt hatte. Ich war natürlich neugierig, weil ich dachte, er hätte damit vielleicht ein Geschenk für mich bezahlt. Die Empfängerin war merkwürdigerweise meine beste Freundin, mit der ich im Kirchenchor sang, sie stand dort neben mir, und wir hatten keine Geheimnisse voreinander. Das dachte ich zumindest … Ich rätselte herum, ob sie wohl mit ihm gemeinsam eine Überraschung für mich ausgeheckt hatte. Ich wünschte mir nämlich schon lange eine ganz bestimmte Handtasche, und meine Freundin wusste davon. Vielleicht hatte mein Mann sie beauftragt, sie für mich zu besorgen, und ihr dafür das Geld überwiesen?«
Linda unterbrach sich: »Aber das ist eigentlich überhaupt keine Weihnachtsgeschichte! Ich weiß gar nicht, warum ich sie überhaupt erzähle.«
»Na los, weiter«, riefen die anderen, »jetzt wird es spannend!«
»Immerhin steht die Schwiegermutter im Schnee und wartet«, erklärte grinsend der Österreicher.
»Die Handtasche kostete um die 700 Mark, fast 350 Euro«,
erinnerte sich Linda, »das war für mich damals unerschwinglich. Ich fuhr also weiter zu meiner Schwiegermutter und überlegte die ganze Zeit, ob mein Mann sich wirklich die Mühe gemacht hatte, mithilfe meiner Freundin aus dem Kirchenchor genau diese Handtasche zu besorgen. Zum ersten Mal im Leben hatte ich richtiges Herzklopfen vor Vorfreude. - Eigentlich mochte ich Weihnachten nämlich nicht, diesen Geschenkzwang und das ganze Getue. Da wir keine Kinder hatten, fand ich dieses erzwungene Zusammensein mit meiner Schwiegermutter ziemlich grässlich. Um Mitternacht sollte ich in der Kirche sein und singen. Neben meiner … Freundin.« Lisa spürte, wie ihre Wangen brannten. »Jedenfalls freute ich mich diesmal wie ein kleines Mädchen auf die Bescherung. Ein solches Geschenk hätte mir
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