Schneegeflüster
Gurkengläser in beiden Händen und wog den Inhalt ab. Nur
ungern zerstörte er die gute Stimmung, denn der Nachmittag war für alle ein großer Erfolg gewesen.
»Haben Sie wirklich geglaubt, genug Geld zu sammeln, dass Agnes nicht in der Fabrik arbeiten muss?«, fragte Richard vorsichtig.
»Ich habe es im Stillen gehofft. Das Mädchen ist geschickt, klug und fleißig«, sagte Charlotte.
»Ich glaube, ich habe eine Idee!« Richard grinste von einem Ohr zum anderen. Er beugte sich fast unschicklich nah zu Charlotte und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass wir einen Lehrling suchen. Wir hatten zwar noch nie ein Mädchen. Aber warum sollten wir es nicht einmal versuchen?«
Charlottes Herz machte einen Sprung, und sie trat einen Schritt zurück. Weit genug, um dem Zuckerbäcker ins Gesicht sehen zu können, aber immer noch so nah, dass sie das Vanillearoma roch, das an ihm haftete wie Parfüm.
»Sie wollen dem Mädchen eine Chance geben?«, fragte sie ungläubig.
Richards Grinsen wurde noch breiter, und Charlotte spürte, wie in ihr etwas schmolz wie Butter auf einer warmen Semmel.
Charlotte blickte sich suchend um. »Wo ist Agnes eigentlich?« Die Kinder hatten sich alle um einen kleinen Feuerkorb versammelt, den Richard gemeinsam mit dem Gesellen aufgestellt hatte, damit die Kunden sich wärmen konnten.
»Agnes ist mit meinem Vater in der Backstube. Er führt sie herum und erklärt ihr, was sie als Lehrling zu tun hat. Das Mädchen ist neugierig und sehr interessiert. Sie scheint schon einiges vom Backen zu verstehen.«
»Ihre Tante arbeitet als Köchin in einem großen Haushalt.
Agnes wollte immer in ihre Fußstapfen treten«, erklärte Charlotte. »Wenn sie diese Lehrstelle bekommen könnte, wäre das …«, Charlotte suchte nach den richtigen Worten, »wie ein Wunder.«
Richard grinste: »Das ist doch großartig. Wann sonst sollen Wunder passieren, wenn nicht zu Weihnachten?«
Eine Woche später war Heiligabend, und Charlotte verbrachte wie jedes Jahr den Vormittag mit ihren Schülern in der winzigen Schule am Wienerberg. Sie hatte Kerzen aufgestellt und ein paar Buschen Tannenreisig aufgehängt. Außerdem hatte sie Tante Emilias Köchin um zwanzig Lebkuchenherzen gebeten, die nun mit Begeisterung verspeist wurden.
»Die Herzen sind gut, aber lang nicht so köstlich wie die Kekse von Meister Reindl!«, rief Rosie mit vollem Mund.
Charlotte hatte befürchtet, dass dieses Fest sehr traurig werden könnte. Aber die Kinder waren noch ganz erfüllt von ihrem erfolgreichen Chorsingen vor der Konditorei und Agnes’ Zusage für eine Lehrstelle.
»Richard Reindl hat gesagt, ich darf ab Februar in der Konditorei beginnen«, erklärte Agnes stolz. »Er hat behauptet, dass ich großes Talent habe. Als ich vorgestern dort war, um den Lehrvertrag zu unterschreiben, hat er mich gefragt, was ich mit den Resten eines Biskuitteiges machen würde, und ich habe ihm vorgeschlagen, ihn mit Schlagobers zu füllen und mit Schokolade zu überziehen.«
Charlotte schüttelte den Kopf. Sie konnte sich das warme Lächeln des Konditors gut vorstellen.
»Er will das Mohrenkopf nennen. Aber ich finde, es sieht aus wie ein Indianer.«
»Ihr werdet eine Lösung finden«, sagte Charlotte. Dann wünschte sie den Kindern zum ersten Mal voller Überzeugung ein schönes Weihnachtsfest.
Am späten Nachmittag gingen Charlotte, Tante Emilia und Sophie zur Weihnachtsmesse in die Schottenkirche. Dem feierlichen Gottesdienst folgte ein kurzer Spaziergang, und dann wurde im Speisezimmer des Stadtpalais ein köstliches Weihnachtsessen eingenommen. Es gab gebratenen Karpfen mit Rotkraut und Kartoffeln. Nach dem Essen saßen die drei Frauen noch lange mit einem Glas Rotwein im Salon und unterhielten sich.
»Der Kinderchor in der Rauhensteingasse war rührend. Ich hätte nie gedacht, dass diese Kinder so wohlerzogen sind«, sagte die Tante und nahm einen kräftigen Schluck aus ihrem Weinglas.
Als es leer war, schenkte sie sich noch einmal nach. »Charlotte, ich werde dich nicht zwingen, einen reichen Mann zu heiraten. Von mir aus kannst du diese Kinder am Wienerberg unterrichten, solange es dir Spaß macht. Ich kann dich zwar finanziell nur bedingt unterstützen, aber du wirst hier immer ein Dach über dem Kopf haben.«
Tante Emilia kicherte wie ein kleines Mädchen. Die Wärme des Kachelofens, der schwere Rotwein und die Weihnachtsstimmung zeigten ihre Wirkung. Charlotte war davon überzeugt, dass die Tante
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