Schneegeflüster
am nächsten Morgen die Sache wieder anders sehen würde, aber jetzt gerade lösten die Worte ein behagliches Gefühl in ihr aus.
Als sie schließlich ins Bett stieg, war es sehr spät geworden. Sie löschte gerade die Petroleumlampe neben ihrem Bett, da hielt sie erschrocken inne. Jemand hatte eben einen
Kieselstein an ihr Fenster geworfen. Oder bildete sie sich das nur ein? Nein, da war ein zweiter Stein. Charlotte trat zum Fenster und sah hinunter auf die Straße. Unter einer der Gaslaternen stand eine dunkle Gestalt. Sie war hochgewachsen, trug einen Mantel und eine Kappe, die schräg auf dem Kopf saß, sodass die blonden Locken darunter hervorschauten.
Als Richard Charlotte am Fenster erblickte, begann er ihr mit Gesten zu bedeuten, sie solle zu ihm auf die Straße kommen. Überrascht zog Charlotte ihre Kleider an, schlich im Dunkeln die breite Treppe hinunter und schlüpfte durch die Eingangstür. Noch bevor sie eine Frage stellen konnte, sagte Richard: »Ich wollte nicht schlafen gehen, ohne Ihnen frohe Weihnachten zu wünschen.«
»Und deshalb werfen Sie Steine an mein Fenster? Woher wussten Sie, dass es mein Fenster ist?«
»Das Dienstmädchen Ihrer Tante ist eine sehr gesprächige Person«, erklärte Richard grinsend. »Ich wollte auch noch ein kleines Geschenk vorbeibringen.« Richard hielt Charlotte ein Säckchen voll Zuckerkipferl entgegen.
»Sie sind ganz frisch, und ich habe sie noch weiter verfeinert. Jetzt sind sie wirklich vollkommen«, erklärte er stolz.
Charlotte sah ihn fragend an. Sie hielt das Säckchen an die Nase und kannte bereits die Antwort.
»Ich liebe Vanille.«
»Ich weiß«, sagte Richard. »Und deshalb habe ich Vanilleschoten unter den Staubzucker gemischt und die Kipferl darin gewälzt.«
»Was für eine wundervolle Idee«, sagte Charlotte. »Dann sind es also jetzt Vanillekipferl.«
Richard nickte. Er nahm Charlotte das Säckchen noch
einmal ab, holte ein Kipferl heraus und hielt es ihr hin. Vorsichtig biss sie davon ab, und Richard steckte sich die zweite Hälfte in den Mund.
»Hm, köstlich«, schwärmte Charlotte.
Dann beugte Richard sich ganz langsam zu ihr und küsste sie sanft auf den Mund. Sein Kuss schmeckte nach Vanille, und diesem Aroma konnte Charlotte einfach nicht widerstehen.
SABINA NABER
Die Gefühlsirren
Da lag es, ihr Baby, friedlich lächelnd, auf ein weißes Tuch und Stroh gebettet. Wie in einem improvisierten Stubenwagen. Und ein nettes Paar passte auf ihren Augenstern auf. Der Mann und die Frau strahlten Erika an, streckten ihr die Hände entgegen. Vermutlich Muslime, denn die Frau trug ein überdimensionales Kopftuch. Die blaue Farbe stand ihr gut. Jung war sie, die Frau. Und hübsch. Der Mann wirkte ein wenig finster, aber vielleicht lag das auch nur am schummrigen Licht im Dom. Die beiden würden jedenfalls ein hübsches Baby bekommen. Dass sie sich eines wünschten, erkannte man ja schon daran, wie liebevoll sie sich um ihren Augenstern gekümmert hatten. So wie die anderen Paare, die in den Nischen des Hauptschiffes lagerten und ebenfalls Kinder betreuten. Sie hatte es ja gewusst, hier würde sie ihr Baby wiederfinden. Auch wenn sie mit der Kirche nicht viel am Hut hatte, in Zeiten der Not konnte man sich auf die Katholiken verlassen. Sie setzten sich immer für Kinder ein.
Erika trat an den Stubenwagen. »Ich danke Ihnen so sehr, dass Sie auf mein Kind aufgepasst haben.«
Die beiden antworteten nicht. Wahrscheinlich verstanden sie zu wenig Deutsch. Zuzügler sollten mehr Deutschkurse bekommen, es war doch eine Schande, wenn man ihnen nicht einmal danken konnte.
Behutsam nahm Erika das Kind aus dem Bettchen. »Ich bringe Jeremias jetzt nach Hause. Er braucht Ruhe nach all der Aufregung.«
Das Paar lächelte. Erika schlug ihren weiten Mantel über das Baby. Die Entführer hatten ihrem Augenstern doch tatsächlich nur die Windel gelassen. Die Menschen waren schlecht. Als sie sich zum Ausgang wandte, war ihr, als hätte die Frau noch etwas gesagt.
Sie nickte ihr zu. »Ja, ich werde ihn nicht mehr aus den Augen lassen. Ich werde nichts mehr ohne ihn tun. Ich wusste immer, dass er etwas Besonderes ist. Deswegen habe ich ihn auch Jeremias genannt. Aber ich wusste nicht, dass ihm jemand etwas Böses will, verstehen Sie? Aber jetzt weiß ich es.«
Erika streichelte dem Baby über den Kopf. »Du wirst einmal etwas ganz Wichtiges für die Welt machen. Und ich sorge dafür, dass du bis dahin sicher bist, mein Liebling.«
Schemenhaft sah sie,
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